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Arndt hatte keinen Schimmer, wo er mit der Suche nach Melinda beginnen sollte. Innerlich bebend hastete er über den verschneiten Parkplatz. Bei Melindas Wagen blieb er stehen und zog nacheinander an den Türgriffen. Abgeschlossen. Na klar. Wenn Reifenspuren vorhanden gewesen waren, dann hatte der Neuschnee sie so gut wie unsichtbar gemacht. Hier oben wehte ein kräftiger Wind, der die Flocken gleichmäßig über den Platz verteilte, anders als in Melindas Garten, der von Bäumen und Büschen geschützt war. Trotzdem erkannte Arndt, dass der Parkplatz von nur wenigen Autos befahren worden war. Die Schneedecke wirkte viel zu gleichmäßig. Er lief einmal um den Platz, suchte nach Hinweisen. Abgeknickte Äste, fallengelassene Gegenstände, irgendetwas, das ihm einen Hinweis auf Melindas Verbleib gab. Doch nichts. An einigen Stellen ließen sich tiefere Reifenspuren erahnen. Der Schnee wirkte aufgeworfen. Ein schwerer Wagen, vielleicht ein Transporter, war hier entlanggefahren. Arndt ließ sich auf die Knie nieder und bemühte sich vergeblich, die leichten Flocken wegzupusten, in der Hoffnung, darunter würden sich die alles entscheidenden Antworten auf seine Fragen finden. Er schob den Schnee mit den Händen zur Seite, grub den Kopf hinein, leckte sich die Lippen, kroch weiter, schwang dabei die Arme wie ein Dirigent, begann zu schwitzen, hörte aber nicht auf, sondern fuhr durch das kalte Weiß wie ein Verrückter. Er kannte das. Er hatte es schon häufig erlebt, dachte jedoch, er hätte es längst hinter sich gelassen. Spuren. Muster. Es war gut, dass niemand hier war, niemand ihn sah. Man hätte ihn für einen Geisteskranken gehalten. Linien, die sich zu Mustern fügten. Der Parkplatz war sein Skizzenbuch und es wollte von ihm mit allem Körpereinsatz bearbeitet werden.
Als ihn die Kräfte verließen, richtete Arndt sich auf und betrachtete sein Werk. Was war das? Was hatte er hier vor sich? Er lief zu Melindas Wagen, schob den Schnee mit dem Mantelärmel von der Motorhaube und stieg aufs Autodach, um einen besseren Blick auf seine Wahnsinnstat zu erhalten. Sein Fuß rutschte zur Seite. Beinahe wäre er gestürzt. Auf allen Vieren kauernd, wie ein Kater in Lauerstellung, starrte er auf die Parkplatzfläche. War das ein Baum? Das Geflecht einer Lunge? Ein Flussdelta? Arndt wischte sich den Schweiß von der Stirn, ließ den Kopf wie ein Gartenvogel hin und her rucken. Nein, das war kein Baum. Und auch kein Lungengeflecht und auch kein Flussdelta. Was er in den Schnee gezeichnet hatte war das Geweih eines Hirsches! Blieb die Frage, was er damit anfangen sollte? Was hatte sein Unterbewusstes da ausgespuckt? Was wollte es ihm mitteilen? Dass Melinda sich im Goldenen Hirschen, dem großen Hotel am Platz, befand? Dass sie sich im Wildgehege, draußen im Süden der Stadt verbarg? Der Hirsch war ein majestätisches Tier, der König des Waldes. Er wurde bewundert. Wurde in Öl gemalt und tausendfach an Touristen verkauft. Er wurde gejagt, das Geweih auf einer Holzplatte befestigt und an die Wand genagelt. Jan Dressler, der Forstwirt, kam ihm in den Sinn. Der Mann, der Stellas Leiche gefunden hatte. Sollte er ...? Aber weshalb? Arndt verabscheute es, wenn er eine Situation nicht verstand, sein Hirn ihm Antworten vorenthielt. Er war müde, hatte schlecht geschlafen. Es stand schlecht um sein Nervenkostüm. Ein in den Schnee gemaltes Geweih, das konnte alles und gleichzeitig nichts bedeuten. Weshalb also darüber nachdenken? Die Spur Richard Harms lag wesentlich näher, glühte spürbar heißer alles alle anderen. Mit dem König des Waldes wusste Arndt ihn nicht in Verbindung zu bringen, doch egal. Aller Voraussicht nach hatte Harms Iris und Stella nach seiner Haftentlassung gesucht, gefunden und umgebracht. Stella hatte er im Kleingarten beim Holzstapel vergraben, Stella im Wald erdrosselt. Aus Rache? Vermutlich hatten sich die beiden Frau geweigert, ihm seinen Anteil am geraubten Geld auszuhändigen. Besaßen sie es überhaupt noch? Hielten sie es versteckt? Wahrscheinlich hatte Harms auch Zippo vergiftet und Melinda entführt. Er wusste, dass sie mit den Ermittlungen vertraut war und hoffte, durch sie an das Geld zu gelangen. Wo war Richard Harms jetzt? Wo war Melinda? Wie sehr musste Arndt auf der Hut sein? Sollte er Bullerjahn und Skagen verständigen? Er war schon dabei, Bullerjahns Nummer zu wählen, als er sich dagegen entschied. Wohin sollte er die beiden bestellen? Wo sollten sie nach Melinda suchen? Er wusste es ja selbst nicht. Zähneklappernd zog er den Mantel enger um seinen Körper und kroch zurück in seinen Wagen. Er schaltete das Radio an, fand jedoch keinen Sender. Schneesturm auch dort. Merkwürdig. Es knisterte und knackte aus den Lautsprechern. Arndt fühlte sich an das Brechen von Ästen, das Rauschen von Baumkronen und das Wispern nächtlichen Laubes erinnert. Durch das Seitenfenster blickte er nach draußen. In der Mitte des Parkplatzes stand jemand. Oder sollte er besser sagen, stand etwas? Durch die wirbelnden Flocken erkannte er bloß verschwommene Konturen, unscharfe Ränder. War das ein Baum? Gerade eben war er noch nicht dort gewesen. Wer hatte ihn dorthin gebracht? Gerade als Arndt wieder aus dem Wagen steigen wollte, nahm er an der Erscheinung eine Bewegung wahr. Konnte das sein? Das Etwas schwankte, schien sich zu schütteln. Arndt erkannte Gliedmaße. Arme und Beine. Riesig, knorrig, verwachsen. Das Wesen richtete sich auf, streckte den Körper. Die Augen zwei gleißend helle Punkte. Arndt schlug sich mit der flachen Hand ins Gesicht. Danach mit der anderen Hand noch einmal. Die Erscheinung blieb und hatte sich jetzt zu voller Größe erhoben. Waren das zwei oder sogar drei Meter? Melindas Fotos kamen ihm in den Sinn. Jene Fotos, die sie im Krankenhaus auf der Bettdecke ausgebreitet hatte. Verzerrte Schatten an der Hauswand. Ein über den nächtlichen Bürgersteig huschendes Phantom. Damals hatte Arndt all das für Spinnerei gehalten. Inzwischen war er sich da nicht mehr so sicher. Er zog seine Pistole und entsicherte sie. Nur für alle Fälle. Das Wesen schien ihn nicht zu bemerken. Es drehte sich von ihm weg. Die verstörenden Geräusche aus dem Radio wurden lauter. Noch während er darüber nachdachte, was er als Nächstes unternehmen sollte und ob er überhaupt noch auf Gottes schöner Welt wandelte, drehte sich das Etwas zu ihm um und senkte den Kopf. Arndt stockte der Atem. Auf dem Schädel des Wesens thronte ein gigantisches Geweih, größer und schöner als er je eines gesehen hatte. Seine Vision hatte ihn nicht getäuscht. Er war nicht verrückt. Der Hirschmann setzte sich in Bewegung und Arndt wusste, was er zu tun hatte.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt