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Melinda wusste nicht wie lange sie in Nikkis Klappstuhl gekauert hatte. Irgendwann öffnete sie die Augen und die Halluzinationen waren verschwunden. Zurück blieb ein bohrender Schmerz hinter der Stirn. Das Licht im Garten war trüb. Die grauen Wolken hingen jetzt direkt über ihr. Sie fror. Winzige Schneeflocken schraubten sich zu ihr herab, legten sie wie Schuppen auf ihre Mantelärmel und schmolzen im Bruchteil einer Sekunde. Melinda legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund. Sie hatte Durst. Der Stuhl neben ihr war leer. Von Nikki keine Spur. War sie in der Hütte oder im hinteren Teil des Gartens? Melinda wuchtete sich hoch, klopfte die Feuchtigkeit von ihrem Mantel und spähte durch das Fenster in die Hütte. Das rote Licht war ausgeschaltet worden, das Häuschen leer. Melinda versuchte es an der Tür. Abgeschlossen. Vielleicht war es besser so, dachte sie. Als Ex-Polizistin sollte sie sich nicht mit einer Haschbäuerin anfreunden, geschweige denn von ihren Früchten naschen. Die Idee, weniger Chemie und mehr natürliche Substanzen zu konsumieren, fand sie jedoch reizvoll. Sie besaß ja nun einen Garten, in dem so manches heilsame Kraut wuchs. Was hatte ihr die alte Frau mit dem Hund von Fliegenpilzen erzählt? Da sollte sie noch einmal genauer nachfragen!

Melinda verließ Nikkis Garten. Sie dachte an Zippo und blickte auf ihr Handy. Sie war nicht einmal eine Stunde lang weggewesen. An ihrem Zaun angelangt rief sie nach ihm. Kein Zippo. Sie rief noch einmal. Nichts. War er etwa schon wieder ausgebüchst und buddelte irgendwo Tierknochen aus? Das Telefon klingelte. Es war Arndt. Er hatte gute Nachrichten für sie. Aus einem unerfindlichen Grund freute sich Melinda, seine Stimme zu hören.
»Das ging aber fix, Kollege!«
»Lissi hatte gerade nichts anderes auf dem Tisch und so ...«
»Verstehe.«
»Das Ergebnis müsste gleich bei dir angekommen.«
Zwei Sekunden später vibrierte Melindas Handy.
»Und was sagst du?«
Arndts Stimme wirkte gehetzt. Sie klang als säße er in einer Kleiderkammer.
»Hockst du in einem Schrank?«
»Sehr witzig! Ich bin mit Bullerjahn in Riefensbeek, wegen dieser Einbrüche. Habe mich kurz aufs Klo zurückgezogen. Pension Waldblick. Und tatsächlich, wenn ich hier aus dem Fenster gucke, sehe ich den Wald.«
»Aus dem Klofenster ...«
»Genau.«
Melinda öffnete das Bild. Wieder hatte Lissi ganze Arbeit geleistet. Der Nacken, groß im Bild, Helligkeit und Kontraste optimiert. Das in Sonjas Nacken war eindeutig ein Bär. Derselbe Bär, den Richard Harms trug. Derselbe Bär, den Stella Blume sich hatte tätowieren lassen. Zufall? Daran glaubte Melinda nicht mehr. Was sagst du zu alldem, Sonja? Oder sollte ich dich besser Stella nennen?
»Sag Lilli einen schönen Dank! Schenke ihr von mir aus einen Strauß Rosen.«
»Hat sie schon. Sagst du mir, worauf du gestoßen bist?«
»Morgen bei Beas Lesung.«
»Na gut.«
Melinda legte die Hand auf das Handy und rief noch einmal nach Zippo. Nichts. Am anderen Ende der Leitung wurde eine Klospülung betätigt.
»Ich muss jetzt wieder ...«
Arndt war kurz davor aufzulegen. Melinda versuchte, das Gesprächsende noch einen Moment hinauszuzögern.
»Gab es schon Reaktionen auf den Zeitungsartikel?«
Arndt lachte auf.
»Seit heute Früh stehen die Telefone nicht mehr still. Bea hat nicht einmal Zeit, sich in der Mensa einen Kaffee und ein Brötchen zu holen.«
»Die Spezialisten haben also erstmal genug zu tun.«
»Oh ja, das haben sie! Den Spreu vom Weizen trennen. Das Übliche. Melinda, ich muss jetzt schlussmachen. Bis morgen.«
»Bis morgen, Arndt.«
Sie legte auf. Komisch, dachte sie, jetzt wo wir nicht mehr im Präsidium aufeinander hocken, uns nicht mehr täglich sehen, verstehen wir uns viel besser. Doch so ist das wohl im Leben. Manchmal muss man sich erst aus den Augen gehen, um sich wirklich zu sehen.

Als sie bei ihrem Gartenhaus ankam, rief sie noch einmal nach dem Hund. Noch immer keine Reaktion. Sie lief hinter die Hütte und inspizierte das Loch im Zaun. Melinda ärgerte sich. Sie hätte es längst mit Brettern oder einer Holzplatte verschließen sollen. Auf allen vieren kroch sie über den Haufen aus Altholz und rostigen Metallteilen und steckte den Kopf durch das Loch. Und tatsächlich. Rechts von ihr, ganz am Ende der Gartenreihe, hinter dem verwilderten Garten der beiden jungen Frauen, sah sie Zippo schnüffelnd am Zaun entlanglaufen. Melinda rief ihn noch einmal und nun reagierte er. Schwanzwedelnd kam er zu ihr gelaufen. Melinda gelang es nicht, den Kopf schnell genug zurückzuziehen. Zippo nutzte seine Chance und leckte ihr einmal quer durchs Gesicht. Der Duft nach dunkler Erde, nassen Wurzeln, feuchtem Laub und etwas anderem undefinierbarem drang in ihre Nase.
»Zippo, du Ferkel! Wo warst du?«
Melinda hoffte, dass er nicht erneut, wie in der vergangenen Woche, menschliche Exkremente gefunden und verspeist hatte. In diesem Punkt wurde sie aus Hunden einfach nicht schlau. Sie würde niemals verstehen, weshalb sich so viele Menschen in öffentlichen Parkanlagen, neben Gehwegen und hinter Blumenrabatten erleichterten. War das ein Hobby oder die pure Not und Verzweiflung? Früher hatte sie sich solche Fragen nie gestellt, als Hundebesitzerin waren sie ihr zur täglichen Routine geworden. Als Maria Zucker könnte sie ein Buch darüber schreiben. Melinda Sieben jagt den Fäkalisten.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt