94

55 12 12
                                    

»Schneebob oder Helikopter?« Bullerjahn zog an seinem Zigarillo und blies hellgrauen Rauch aus dem Mundwinkel. Arndt brauchte nicht lange zu überlegen. »Schneebob.« Melinda schielte zum Hubschrauber hinüber. »Ich nehme den da! Ist irgendwie cooler.« Sie blickte Arndt herausfordernd an. Er litt unter Flugangst, das wusste sie. Sie warf ihm einen Luftkuss zu.

Der Helikopter schraubte sich in die Luft und bevor Melinda sich in den Sitz zurücklehnte, sah sie noch einmal hinab auf den winterlichen Wald, die Jagdhütte, die Blutlachen im Schnee, die herumlaufenden Experten, Helmholz im Schutzanzug, flatternde Absperrbänder. Je höher sie stiegen, je mehr sich die Landschaft unter ihr in eine Miniaturwelt verwandelte, desto unwirklicher erschien Melinda das Gewesene. Iris hatte Stella umgebracht und im Kleingarten am Holzstoß vergraben. Weshalb? Melinda wusste es nicht. Vielleicht hatte Stella die Heimlichtuerei nicht mehr ausgehalten und wollte alles auffliegen lassen. Vielleicht war es auch um etwas ganz anderes gegangen. In jedem Fall hatte Iris Stellas Identität angenommen, was kein Problem dargestellt haben dürfte, denn die beiden Frauen sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Die falsche Stella hatte den Garten hinter sich gelassen und Arbeit bei Gramberg gefunden. Dort hatte sie vermutlich Jan kennengelernt. Sie waren ein Paar gewesen. Iris hatte in seinem Keller gewohnt. Die Gier musste ihn schließlich dazu getrieben haben, sie umzubringen. Vielleicht weil sie Bedingungen gestellt hatte, vielleicht weil sie sich geweigert hatte, das Geldversteck zu verraten. Hätte Jan dasselbe auch mit ihr, Melinda, gemacht? Was wäre geschehen, wenn die Häscher des Generals nicht aufgetaucht wären? Sie säße dann nicht in diesem Hubschrauber, so viel war sicher.
Blieb die Frage, was mit Richard Harms passiert war. Hatte er die beiden Frauen gefunden oder war er nur Lollis lutschend durch den Stadtwald gestreift? Auf irgendeine Weise hing er in der Geschichte drin, doch das war jetzt nicht mehr Melindas Angelegenheit. Die Experten würden Licht ins winterliche Dunkel bringen. Dafür waren sie hier. Dafür wurden sie bezahlt. Möglich, dass sie zu völlig anderen Schlüssen gelangten, sie eine ganz andere Version der Geschichte schrieben. Polizeiarbeit war ein Puzzlespiel, bei dem die Einzelteile in unendlichen Variationen miteinander kombiniert werden konnten.

Der Pilot drehte den Kopf nach hinten und erkundigte sich bei Melinda, ob alles in Ordnung sei. Vermutlich hatte er ihre tränennassen Wangen bemerkt. Melinda wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und streckte den Daumen nach oben. »Alles paletti!« Zwischen ihren Beinen klemmte Frankys Rucksack. Gleich nach dem Start hatte sie ihn aufgeschnürt und den Inhalt inspiziert. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass er tatsächlich hier war. Ein Bote aus der Vergangenheit, eine Zeitkapsel, eine Verbindung zu ihrem geliebten Franky. Er musste den Rucksack für eine längere Wanderung gepackt haben. Melinda fand eine Wanderhose, eine zusammengefaltete Regenjacke, zwei Paar Socken, Unterwäsche, eine Mütze, Handschuhe, einen Kompass, ein GPS-Gerät, eine Faltkarte, zwei Trinkflaschen, Energy-Riegel, eine Sonnenbrille und einen dünnen Schlafsack, deren Winzigkeit sie überraschte. Was hatte Franky in Dresslers Hütte gemacht? Übernachtet? Wahrscheinlich. Hatte er von dort aus seine Befreiungsaktion gestartet? Eine Aktion, die einen anderen Menschen gerettet, Franky selbst aber das Leben gekostet hatte. Bis heute stand diese Geschichte wie eine unüberwindliche Mauer zwischen Arndt und ihr. Dass er Frankys Auftauchen genutzt hatte, um aus Freislers Folterkeller zu entkommen, nahm sie ihm nicht krumm, doch dass er sie nicht mitgenommen hatte, das verstörte sie noch immer. Da half es auch nicht, dass sie zwölf Stunden nach seiner Flucht befreit wurde. Arndt war abgehauen und hatte sie dem Sadisten Freisler ausgeliefert.

»Wir landen in fünf Minuten!« Die Stimme des Piloten klang angenehm und beruhigend. Nur noch wenige Augenblicke, dann war sie in Sicherheit. In nicht einmal fünfzehn Minuten würden sich Ärztinnen in sauberen weißen Kitteln über sie beugen und sich um ihre durchschossene Schulter kümmern. Alles würde gut werden. Noch einmal griff sie in den Rucksack und fand eine durchsichtige Dokumententasche mit Reißverschluss, in der sich ein dicker Stapel Papier befand. Melinda öffnete sie und zog etwas heraus, das wie ein Vertrag aussah. Daran hing ein mit einer Büroklammer befestigter Briefumschlag, auf dem Melindas Name stand. Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen. Widerstand zwecklos.


Allerliebste Melinda!

Wenn du diese Zeilen liest, bin ich nicht mehr am Leben und du bist frei. Ich weiß, mein Vorhaben ist verrückt, doch ich habe keine andere Wahl. Seit Wochen hält dieser Verrückte dich gefangen und es gibt bis heute keine Lösung, wie du und dein Kollege befreit werden können, ohne dass euer Leben gefährdet wird. Jeden Abend spülen die Nachrichten dein Schicksal in mein Wohnzimmer und mir bleibt nichts anderes übrig, als zuzusehen. Ich bin weit weg von dir, weit weg vom Harz. Das bringt mich fast um den Verstand. Dein Fall ist nicht mein Fall, so sagt man mir. Die Soko in Goslar hat meine Mitarbeit abgelehnt. Pfuscher! Ich mache mich selbst auf den Weg. Eine Suchmannschaft kann man nicht übersehen, einen allein suchenden Mann schon. Das ist meine Chance. Das ist deine Chance.
Der Forstbeamte, bei dem ich untergekommen bin, ist ein feiner Kerl. Ich lasse den Rucksack bei ihm. Er wird ihn gut behüten. In der Klarsichthülle findest du den Kaufvertrag für ein Haus auf Norderney. Mit diesem Brief gehört es dir. Ebenso meine Wohnung in Cuxhaven. Die Panini-Sammelalben und die Pokemon-Karten (im Arbeitszimmer, unter den Dielen hinter dem Schreibtisch) gehen an meine Mutter. Wenn sie fragt, was sie damit anfangen soll, dann sage ihr, dass sie zusammen mehr als 35.000 € wert sind. Nach einem weiteren Testament braucht sie nicht zu suchen. Es existiert nicht.

Behalte mich in Erinnerung. Ich liebe dich.
Dein Franky


Der Hubschrauber setzte auf dem Landeplatz der Klinik auf, als Melinda den Brief sanft küsste  und zurück in den Umschlag schob. Die Türen wurden aufgeschoben und zwei freundlich blickende Pfleger nahmen Melinda in Empfang. »Ihr Kollege ist schon da. Ich hoffe, ein Doppelzimmer ist in Ordnung für Sie.« Das ist sehr in Ordnung, dachte Melinda. Wirklich sehr in Ordnung. Sie rollte sich auf die Bahre und schloss die Augen. Aus der Tiefe des Waldes erklang ein kehliges Röhren. Ihr Vater, der Hirschmann, der Schamane, der Wandersmann rief ihr etwas zu. Einen Augenblick lang war sie versucht, zurückzurufen, doch fehlte ihr die Kraft. Sie würde ihn besuchen, sobald sie wieder wohlauf war.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt