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Als sie das Haus verließ erinnerte sie sich wieder an den Zettel, der an der Haustür gehangen hatte. Jemand war in ihrer Wohnung. Ich habe Bilder!

Es war kurz vor zehn und die Tankstelle lag bereits im Dunkeln. Nur im Verkaufsraum brannte noch eine einsame Neonröhre. Melinda blieb an den Tanksäulen stehen und sah Sophie dabei zu wie sie sich die Jacke überzog, einen Schlüsselbund vom Tresen nahm und zur Tür kam. Als sie Melinda bemerkte blieb sie erschrocken stehen, erkannte sie dann aber und kam zu ihr hinaus.

„Hast nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen, was!"

Melinda versuchte sich von ihrer freundlichsten Seite zu zeigen. Schließlich hatte das Mädchen etwas für sie. Doch Sophies Blick war wie versteinert. Sie zog eine Schnute, sah Melinda nicht an.

„Zehn Euro pro Bild!"

Melinda verschlug es die Sprache. Diese Göre! War das ihr Ernst? Wusste dieses Mädchen was sie da tat?

„Gegenvorschlag. Du gibst mir die Bilder und ich verrate niemandem, dass du dich bei den Zigaretten bedient hast!"

Stille. Betretene Blicke.

Sophie nahm den Rucksack von ihrer Schulter, zog den Reißverschluss auf und hob eine Spiegelreflexkamera heraus. Mit ein paar schnellen Handgriffen öffnete sie das Gehäuse, nahm den aufgespulten Film heraus und hielt ihn Melinda hin.

„Du fotografierst? Professionell?"

„Irgendwas muss man ja machen, außer Schule und arbeiten ...!"

Melinda lächelte. Die Kleine imponierte ihr.

Sophie schulterte wieder ihren Rucksack und sah Melinda jetzt direkt in die Augen.

„Sie glauben mir nicht! Sie glauben ich spinne! Aber da war jemand!"

„Alles gut. Ich glaube dir!"

„Erst dachte ich es wäre bloß der Schatten von dem Baum da. Bis ich sah, dass es ein Mann war. Ein ziemlich großer Mann."

Sophie hob den Arm etwa zwei Handbreit über ihren Kopf. Wenn das stimmte und sie sich nicht vertan hatte, dann musste der Alte Wandersmann mindestens zwei Meter groß sein.

Melinda verabschiedete sich von Sophie und versprach ihr, dass sie ihre Dienste in naher Zukunft bestimmt einmal in Anspruch nehmen werde. Es war lange her, dass Melinda ein Mädchen so zufrieden grinsen gesehen hatte.

Sie lief zu Bullerjahns Wagen, schmiss den Film ins Handschuhfach, sortierte im Rückspiegel flüchtig ihre Haarklemmen, fuhr sich mehrmals mit dem Pflegestift aus Bienenwachs über die Lippen und startete den Wagen.

Erschien es ihr nur so, oder waren Parkplatz und Forstweg wirklich noch dunkler geworden? Vielleicht war es auch nur in ihrem Inneren dunkler geworden, vielleicht fürchtete sie sich insgeheim vor dem, was sie dort oben im hinter dem Hochwasserbehälter erwartete. Schließlich war es über ein Jahr her, dass sie sich über einen toten Menschen hatte beugen, die Verwesung, die Finsternis des Endgültigen, das unendliche Geheimnis der Leblosen hatte riechen müssen. Sie dachte an die frische Ostseeluft, den weißen Strand, das Kreischen der Möwen.

Sie gab Gas und fuhr den schotterigen Weg hinauf, viel zu schnell, das war ihr bewusst. Unter den Reifen knirschten die scharfen Steine. Manchmal flogen einer von ihnen in die Böschung oder sprang mit einem blechernen Knallen unter die Karosserie. Nach einer leichten Linkskurve tauchten auf der linken Seite die Polizeiwagen auf. Ein maigrüner Kleinwagen war hinzugekommen. Dahinter, quer auf dem Forstweg, stand der Geländewagen des Revierförsters. Die Fahrt hatte nicht einmal zwei Minuten gedauert, doch Melinda war sie wie zwei Tage vorgekommen. Sich kniff sich in die Wange, fuhr sich durchs Haar. Reiß dich zusammen Melinda, reiß dich zusammen! Sie spürte, dass sie wieder Hunger bekam. Sie sah im Handschuhfach nach, doch außer einem Autoatlas, uralten Kassenbons, einem Eiskratzer und Sophies Film fand sie nichts. Sie sah auf die Rückbank, auf der Bullerjahn eine angebrochene Kekspackung liegen gelassen hatte. Sie griff danach, steckte sie sich in die Jackentasche und stieg aus. Lautlos drückte sie die Wagentür ins Schloss.

Wie still es hier war! Links von ihr, hinter einem hohen Zaun und gut verborgen in einem dichten Birkenwäldchen, lag der Hochwasserbehälter. Vor ihr versperrte das Wildtiergatter den Weg. Rechts war eine breiten Schneise zu sehen, die weit hinunter ins Tal führte. Melinda streckte den Hals. Der Himmel war klar. Wann hatte sie jemals so viele Sterne auf einen Haufen gesehen? Sie erkannte Muster, die ihr entfernt bekannt vorkamen, doch es gelang ihr nicht, sie einem Sternzeichen zuzuordnen. Das ärgerte sie und sie nahm sich vor, ihr Wissen über Sternbilder bei nächster Gelegenheit aufzufrischen.

Sie schloss die Augen und sog die frische Waldluft ein. Wenn der Sehsinn ausfiel, dann schlug die Stunde der übrigen Sinne, der Nase, der Ohren, der Haut, der Zunge. Feuchte Walderde, geschlagenes Holz, Baumharz, feuchtes Moos, Pilze. Knackende Äste, das Rauschen des Windes in den Wipfeln, das Rasseln ihres eigenen Atems.

Ein Räuspern, unmittelbar vor ihr. Melinda zuckte zusammen und riss die Augen auf.

„Gut, dass du da bist! Komm mit! Das musst du dir ansehen!"

Es war Bullerjahn. Er lehnte am offen stehenden Gattertor und wartete auf sie. Sie tastete nach dem Brief, den ihr der Alte Wandersmann hinterlassen hatte. Er steckte noch immer in ihrer Hosentasche. Sie zog die Kekspackung heraus und roch daran. Dann steckte sie sie zurück in die Jackentasche.

Lösungen müssen sich nicht in jedem Fall auf diejenigen Probleme beziehen, die sie lösen sollen.

Melinda wusste plötzlich, dass sie morgen noch einmal zu Frau Schrader in den Garten fahren würde. Und den Alten Wandersmann, den wollte sie von nun an einfach nur den Wandersmann nennen. Sie war dabei, Lösungen zu finden. Und das war gut. Einfach nur gut. Ob es am Ende Lösungen für ihre Probleme waren, würde sich irgendwann, vielleicht aber auch nie herausstellen. Sie dachte an Arndt und hoffte, dass er zurecht kam.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt