Arndt hatte erwartet, Melinda in der Wohnung anzutreffen, doch dort war sie nicht. Lange konnte sie noch nicht weg sein. Der Tee in der Kanne war noch warm, im Badezimmer brannte das Licht, Schaumreste klebten am Wannenrand. Er sah in ihrem Zimmer nach. Keine Melinda. Als er die Tür schon wieder schließen wollte, blieb sein Blick an der offen stehenden Truhe hängen. Was für ein ungewöhnliches Stück! Melinda hatte einen echten Schatz gehoben. Die Truhe war bis unter den Rand mit zahllosen Päckchen verschiedenster Formen und Größen gefüllt. Braunes Packpapier, grob umwickelt mit Leinenschnur, daran ein beschriftetes Etikett. Wie viele mochten es sein? Fünfzig? Hundert? Hatte Melinda Schraders geheimes Weihnachtsdepot gefunden, oder was war das hier? Arndt griff nach einem Päckchen, dessen Inhalt sich wie ein kleines gebundenes Buch anfühlte und auch in etwas so viel wog. Auf dem Papieretikett hatte jemand mit schwarzer Tinte ein Datum und einen Namen notiert. 13. April 1982. Michael Greiner. Arndt schob ein paar Päckchen zur Seite und besah sich die weiter unten liegenden. 04. Februar 1966, Konrad Becker. 11. August 1967, Hermann Stolz. 22. Oktober 1969, Adrian Heinemann.
Eine merkwürdige Sammlung. Melinda wusste offenkundig mehr. Sie hatte sich die Truhe extra herauftragen lassen und zielsicher das Schloss geknackt. Arndt erinnerte sich an Melindas Frage, die sie am ersten Tag im Präsidium geäußert hatte. Ob das Präsidiumsgebäude früher eine Schule gewesen sei, hatte sie von Christiansen wissen wollen.
Die Uhr stand auf halb sieben und Melinda war noch immer nicht zurück. Jetzt musste er doch den Wagen nehmen, um rechtzeitig beim Gasthaus zu sein. Er zog sich ein frisches Hemd an, wechselte die Socken und kämmte sich das Haar. Es war ihm an der Ostsee über die Ohren gewachsen. Schon seit Wochen ärgerte er sich darüber, und doch hatte er es nicht hinbekommen sich einen Friseurtermin zu besorgen. Morgen aber. Vielleicht auch übermorgen. In der Küche füllte er Zippos Näpfe mit Wasser und Trockenfutter auf. Der Hund spürte, dass Arndt die Wohnung verlassen wollte und er für die nächsten Stunden allein bleiben würde. Zippo begleitete Arndt bis an die Tür. Dabei lief er so dicht neben ihm, dass Arndt im Flur fast über ihn gestolpert wäre.
„Pass gut auf die Wohnung auf, alter Junge. Bin bald zurück." Arndt hatte keinen blassen Schimmer ob Zippo ihn verstand. Er hatte von Hunden gehört, die während der Abwesenheit ihrer Besitzer die komplette Wohnungseinrichtung demolierten. Aus Frust, aus Langeweile, aus Traurigkeit.
Beim Hinausgehen fiel ihm auf, dass Melindas Schrottrad nicht mehr an seinem Platz stand. Auf dem Boden fand er ein paar Ölflecken und drei Unterlegscheiben. Offenbar hatte sie das Rad schon repariert und war vor lauter Euphorie schon einmal vorgefahren.
Das Lokal war mit dem Auto in zehn Minuten zu erreichen. Arndt überquerte eine Autobahnbrücke, dann durch ein Wohngebiet aus den fünfziger Jahren. Hellgelber Rauputz, Fensterläden, alter Baumbestand. Die Straße wurde steiler. Links tauchte der Stadtwald auf, auf der anderen Seite reihten sich Einfamilienhäuser mit breiten Einfahrten aneinander. Je weiter er hinauf fuhr, desto größer wurden die Abstände zwischen den Grundstücken, bis nur noch Wiesen zu sehen waren und schließlich vor ihm auf der Kuppe der schwarze Waldrand auftauchte. Rechts, zwischen alten Eichen und Buchen, erhob sich das Städtische Krankenhaus, links ging es zum Parkplatz und zum Waldgasthaus.
Dunkel war es hier oben. Nicht mehr als drei oder vier Straßenlaternen brannten. Der Rest schien defekt oder aus Spargründen ausgeschaltet. Am Himmel zeigten sich vereinzelte Sterne. Dies hier ist der Arsch der Welt, dachte Arndt. Dunkel, still und gottverlassen. Doch musste das nichts Schlechtes bedeuten. Am Arsch der Welt gibt es immerhin Ruhe, eine Chance auf innere Einkehr und körperliche Entspannung. Alles Sachen, die er gerade gut gebrauchen konnte.
Die Scheinwerfer des Wagens huschten über eine Informationstafel, auf der rote, schwarze und grüne Linien die Wanderwege in den Harz markierten. Daneben lagen mehrere zerknüllte Tüten eines Fastfood-Restaurants und die Inhalte eines ausgeleerten Aschenbechers. Der Parkplatz war bis auf zwei Wagen und ein Motorrad leer. Arndt parkte ganz am Ende, dort wo der Wald begann.
Am Eingangstor des Gasthauses entdeckte er Melindas Fahrrad. Sie hatte es mit einem Kettenschloss am Zaun gesichert. Es war heute milder als an den vergangenen Abenden, die Sicht ins Tal war klar. Bullerjahn hatte von dem Ausblick hier oben geschwärmt. Davon wollte Arndt sich selbst überzeugen. Anstatt direkt zum Lokal zu gehen, wählte er einen schmalen Trampelpfad zwischen Gasthaus und Stadtwald, der ihn auf eine breite, abschüssige Wiese führte. Bullerjahn hatte nicht übertrieben. Von hier aus bot sich ihm ein fantastischer Ausblick auf das Sösetal, die erleuchtete Stadt und die angestrahlte Burgruine. Auf der gegenüber liegenden Talseite entdeckte er ein einzelnes beleuchtetes Haus. Das Grundstück, auf dem es stand, war so riesig, dass er es selbst von hier klar und deutlich erkennen konnte. Arndt schätzte die Fläche auf eine Größe von mindestens zwei Fußballfeldern. Unmittelbar dahinter begann der Wald, dunkel und undurchdringlich. Wenn er es sich leisten könnte, würde er dort oben leben wollen? Arndt dachte an seine enge Wohnung in der Goslarer Innenstadt. Dort kannte er jede Gasse, wusste wo er einen Supermarkt, eine Tankstelle, eine gemütliche Kneipe finden konnte. Wie war es hier? Zwanzig, dreißig Schritte von ihm entfernt begann die Wildnis, versteckte sich das Licht, gab es keine Orientierung mehr. Es sei denn man war im Besitz einer Wanderkarte.
Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran weshalb er hier war. Langsam ging er zurück. Erst jetzt fiel ihm die markante Form des Hauses auf, sein spitzes Dach, seine verwinkelten Mauern. Es erinnerte ihn an eines dieser Hexenhäuser aus den Märchenbüchern, die er als Kind so geliebt hatte. Doch dieses hier wirkte freundlicher und einladender. In Richtung der Wiese besaß es hell erleuchtete Panoramafenster, durch die hindurch man Lampen, Tische, Stühle und die wenigen Gäste sah. An einem der Fenster saßen zwei Personen, die er kannte. Bullerjahn und Melinda winkten ihm gut gelaunt zu und forderten ihn mit Handzeichen auf herein zu kommen. Gern wäre er noch hier geblieben und hätte weiter ins Tal gesehen. Arndt gab sich einen Ruck. Er wollte sich nicht ein zweites Mal bitten lassen und schlug den Rückweg ein, nicht ohne erneut auf die erleuchtete Stadt im Tal geschaut zu haben.
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Pilzgericht (Krimi)
Mystery / ThrillerDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...