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Zehn Minuten später stand sie vor Grambergs Gasthaus und studierte die Speisekarte. Nicht dass sie Hunger hatte oder Lust verspürte hineinzugehen, sie stand einfach nur so da und guckte. Alle Pilzgerichte waren gestrichen. Melinda wusste warum. Das Tor war geschlossen, der Parkplatz bis auf Bullerjahns und Grambergs Wagen leer. Heute war Ruhetag. Verständlich.

Sie sah die Bank, auf der Arndt gestern Abend gesessen hatte. Da vorn hatte der Dienstwagen gestanden, daneben Bullerjahn, Dressler und die beiden Streifenbeamten. Gestern war ihr der Wald bedrohlich vorgekommen. Heute schien er ihr trotz des grauen Himmels und trotz des Nieselregens ein Willkommen entgegenzurufen. Sie folgte dem steinigen Weg bis zum Hochwasserbehälter, hinter dem es links über den schmalen Pfad zum Fundort der Leiche ging. Am Wildtiergatter lehnten zwei Jugendfahrräder, ein rotes und ein schwarzes. Melinda schwante nichts Gutes. Die Vorstellung von zwei Halbwüchsigen, die ihr den Tatort zertrampelten, machte sie rasend.

Doch der Platz war menschenleer. Beinahe wäre Melinda an ihm vorbeigelaufen, so anders wirkte er bei Tag, ohne dem Licht der Scheinwerfer, ohne die harten Schatten, ohne die dunklen Ränder der Manege. Alles war säuberlich bereinigt. Nichts außer ein paar Stellen platt getretenen Mooses und umgeknickter Grashalme deutete darauf hin, dass gestern an diesem Ort eine Leiche geborgen wurde.

Was erhoffte sie sich eigentlich zu finden? Glaubte sie wirklich, mehr zu sehen als Helmholtz? Sie bückte sich nach einem trockenen Zweig, drehte ihn in der Hand und warf ihn wieder weg. Hier hatte gestern Abend Stella gekauert. Nach vorn gebeugt, den Kopf in Dresslers Pilzkorb vergraben. Sie trug einen knöchellangen braunen Überwurf mit Kapuze, der Melinda entfernt an eine Mönchskutte erinnerte. Weshalb trug eine junge Frau so etwas? Oder sollte sie eher fragen: Weshalb trug sie eine solche Kutte im Wald? War ihr kalt gewesen? Hatte sie sich verbergen wollen? Und wenn ja, vor wem? Dort hinten war der Findling, auf dem Kerner und Aust gesessen hatten. Die Zigarettenstummel, stammten sie von ihnen? Helmholtz hätte sie eingetütet, wenn es anders gewesen wäre.

Hinter ihr auf dem Pfad knackten Zweige. Melinda wirbelte herum. Eine heisere Männerstimme erklang.

„Der Mensch lenkt, Gott denkt! Hatte meine Großmama schon immer gesacht!"

Ihr erster Gedanke war: der Wandersmann! Als sie jedoch genauer hinschaute, sah sie keinen Schatten, kein Phantom. Da war kein langer Bart, keine Wanderschuhe. Außerdem konnte sie sich den Wandersmann nicht sprechend vorstellen, warum wusste sie nicht.

Auf dem Trampelpfad stand ein schmaler Kerl. Helles, gelocktes Haar, leicht abstehende Ohren, eine Himmelfahrtsnase, Sommersprossen und das breiteste Grinsen, das Melinda je im Gesicht eines Mannes gesehen hatte. Er trug einen abgewetzten, grauen Mantel, enge Hosen und hatte mindestens Schuhgröße 47.

„Melinda Sieben?"

„Die bin ich!"

Er kam mit entschlossenen Schritten auf sie zu und streckte ihr seine Hand entgegen. Melinda ignorierte sie. Das ging ihr alles zu schnell. Zu viel Freundlichkeit auf einmal. Wer war der Typ? Was wollte er hier? Sie sah ihn fragend an.

„Hey! Skagen Berggren von de swedise Polisen in Lund!"

Skagen? Das ging aber schnell! Woher wusste er, dass sie sich hier im Wald aufhielt? Weshalb war Bullerjahn nicht bei ihm?

Langsam fand Melinda ihre Stimme wieder.

„Ich verbessere Sie nur ungern, doch es heißt: Der Mensch denkt, Gott lenkt!"

Skagen sah hinauf in die Baumwipfel und zeigte ein nachdenkliches Gesicht.

„Habe ich doch gesacht! Der Mensch lenkt, Gott denkt!"

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt