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Wieder und wieder las Melinda Jans Nachricht. Was sollte das heißen, er konnte nicht in seinem Haus bleiben?

Kann ich zu dir kommen? Jetzt gleich?
Kein grinsendes Wildschwein, keine Zwinkertanne.

Erst zwanzig Minuten später, nach langem Nachdenken, schrieb sie ihm zurück. Ihr fiel ein, dass Jan keinen blassen Schimmer hatte, wo sie hauste.
Parkplatz Krankenhausgasse. Runter zur Bahn und den Weg links rein. Erster Garten. Gastgeschenk: ein Arm voll Brennholz.
Winkepilz.

Schon wenige Minuten später bereute sie ihre Entscheidung. Ein jammernder Kerl war das letzte, das sie heute Abend gebrauchen konnte. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun. Wenn sie schon einen Mann in ihre Nähe ließ, dann sollte er ihr ebenbürtig sein, auf Augenhöhe mit ihr stehen. In jener Nacht, kurz nachdem sie Stella gefunden hatten, war Jan ihr so attraktiv erschienen. Ein Mann, der wusste was er wollte. Der in sich ruhte und die Ausstrahlung eines wellenumtosten Felsens besaß. Er hatte sie an Franky erinnert. Den guten, alten, wahnsinnigen Franky, der auf eigene Faust versucht hatte, sie aus Freislers Hütte zu befreien und dies mit seinem Leben bezahlt hatte.
Doch Jan war nicht Franky, das hatte sie bei ihrem Besuch in seinem heruntergekommenen Haus schmerzlich erfahren müssen. Obwohl Franky als Polizist selten zu Hause gewesen war, seine lichtdurchflutete Wohnung in Cuxhaven hatte er stets aufgeräumt und sauber gehalten. Helle Möbel, farbige Kissen, geschmackvolle Bilder an den Wänden. Skandinavischer Stil. An manchen Wochenenden waren sie stundenlang durch die Ikea-Filiale gelaufen, hatten auf Sofas gelümmelt, sich auf Betten gewälzt und ihr zukünftiges gemeinsames Leben geprobt. Noch immer spürte Melinda den leicht künstlichen Duft von Lavendel und Zitrone in der Nase. Franky hatte Duftkerzen geliebt. Wie sehr hatte Melinda sich auf die gemeinsame Wohnung und ihr gemeinsames Leben gefreut! Und nun? Wie verzweifelt war sie, dass sie die Nähe eines Mannes suchte, der das genaue Gegenteil von Franky zu sein schien?
Sie dachte an das Gespräch in Jans Haus und schielte hinüber zu dem kleinen Bücherbord neben der Spüle, wo ein paar Romane und ihr Notizbuch lagen. Noch immer hatte sie ihren Bericht nicht geschrieben, doch inzwischen war das völlig egal, niemand fragte danach und weshalb sollte sie Jan ungewollt in irgendwas hineinziehen? Die Spezis tauchten sowieso irgendwann bei ihm auf, um ihn und den Rest der Skatrunde zum Verhör ins Präsidium zu bitten. Melinda glaubte nicht, dass die Kartenspieler ihnen bei den Ermittlungen weiterhelfen konnten. Schon Bullerjahn hatte nichts aus ihnen herausbekommen und sein kurz gefasster Bericht ließ nicht erkennen, dass sie ihm etwas Entscheidendes verschwiegen hatten.

Melinda sah an sich herunter. Konnte sie Jan in Jogginghose und Strickpullover empfangen? Sie dachte an sein schlecht gelüftetes Haus, den Staub und die Spinnweben und befand, dass ihr Outfit völlig ausreichte. Der Vorteil einer Gartenhütte war ihre übersichtliche Größe. Melinda brauchte keine fünf Minuten, um Ordnung zu schaffen. Die Spuren ihrer Ermittlungen, Fallakte, Kugelschreiber, Textmarker, das Notizbuch, vergrub sie in der Küchenbank, tief unter zusammengeknautschtem Kopfkissen und Bettdecke. Sie überprüfte das Versteck der Beretta, rückte Gläser und Dosen im Vorratsregal gerade und trug den Läufer zum Ausschütteln vor die Tür. Melinda sah aufs Handy. Es war kurz nach 10 und Jan immer noch nicht aufgetaucht. Hatte er es sich anders überlegt oder fand er den Garten nicht? Sie schnappte sich ein Buch, hüllte sich in eine Wolldecke und las. Henry David Thoreau. Walden. Ein Klassiker von 1854, den Franky ihr geschenkt hatte, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Die Geschichte eines Aussteigers, der sich in eine Hütte in der kanadischen Wildnis flüchtet. Über die ersten fünf Seiten war sie bisher nicht hinausgekommen. Lies das und du lernst mich besser kennen, hatte er gesagt, worauf sie erwiderte, dass er ihr selbst etwas über sich erzählen sollte. Lesen könne sie immer noch, wenn sie allein war. Dann hatte sie ihn geküsst. Wie einsam sie einmal sein würde, konnte sie damals nicht erahnen.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt