Der Weg zurück zur Gartenhütte fühlte sich für Melinda wie eine Tageswanderung über den Harz an. Es ging durch Täler, über Bergkuppen, an kantigen Felsen vorbei, durch dunkle Wälder, über helle Lichtungen. Ihre Gedanken waberten hin und her, sprangen mal hierhin, mal dorthin, brachen abrupt ab, fingen weit entfernt von neuem an. Offiziell war sie nicht mehr im Dienst. Offiziell waren Arndt und Bullerjahn nicht länger mit dem Fall Stella betraut. Und doch hatten Arndt und Melinda es mit Skagens Hilfe geschafft, den Experten aus Hannover ein weites Stück voraus zu sein. Mit diesem Fall war es wie bei einem neu erworbenen Puzzle. Melinda war sich sicher, dass alle Teile in der Packung lagen. Jetzt musste es ihr nur noch gelingen, sie zu einem stimmigen Motiv zusammenzusetzen.
Wenn Stella Blume in Wirklichkeit Nina war, wo war dann Stella? Und wo war Ninas Schwester Sonja abgeblieben, mit der sie zusammen im Kleingarten gelebt hatte? Hatten Stella und Nina Richard Harms gekannt? Die beinahe identischen Tattoo-Motive deuteten darauf hin. Oder war das nur ein dummer Zufall? Melinda fand das eher unwahrscheinlich, denn alle drei hatten an der Göttinger Uni studiert und waren beinahe gleich alt. Stellas Abtauchen deckte sich mit dem Jahr des Überfalls auf den Supermarkt. Hatte sie auch damit etwas zu tun? Wenn Melinda auf alle ihre Fragen eine Antwort bekam, würde das Puzzle am Ende vollständig vor ihr auf dem Tisch liegen? Würde sie verstehen, weshalb Nina sterben musste und weshalb sie mit geklautem Namen durch die Weltgeschichte lief?
Melinda griff sich ins Haar, tastete nach der maigrünen Spange, die sie vor langer Zeit Stella gewidmet hatte und lud sie mit einer neuen Bedeutung auf. Ab heute war es Ninas Spange.Im Park unterhalb der Kleingärten traf Melinda erneut die alte Frau mit dem kleinen Hund, welche ihr vor Wochen die mannigfaltigen Bezeichnungen der Stinkmorchel erläutert hatte. Nach einem kurzen Gespräch über die Essbarkeit von Blattknospen und der angeblichen Heilwirkung des Fliegenpilzes, ließen sie die Hunde von der Leine. Über eine halbe Stunde sprangen die Tiere wie angestochen über die Wiese, als hätte man sie gerade aus jahrelanger Gefangenschaft befreit.
Als Melinda in den Garten zurückkehrte, sah sie bereits von weitem den weißen Umschlag im Türspalt stecken. Herr Kessler hatte sein Versprechen gehalten und ihr das Foto herausgesucht, das Nina mit ihrer Schwester zeigte. Auch wenn die beiden jungen Frauen dem Fotografen ihre Gesichter nicht direkt zugewandt hatten, erkannte Melinda dennoch, wie unglaublich ähnlich sie sich sahen, was man nicht von allen Geschwistern behaupten konnte. Ihre Mutter zum Beispiel sah ihrer Schwester überhaupt nicht ähnlich. Während diese kräftig gebaut war, dunkles Haar und kurze Finger hatte, war ihre Mutter trotz ihres hohen Alters noch immer schlank, groß gewachsen und besaß zarte Hände. Melinda sah an sich herunter. In ihr selber schienen sich weder die einen, noch die anderen Merkmale zu spiegeln. Sie war mittelgroß, besaß für ihren Geschmack einen zu langen Oberkörper und im Sonnenlicht rötlich schimmerndes Haar.
Links auf dem Bild, die Frau mit dem Spaten in der Hand, das war eindeutig Nina. Sie hatte die Ärmel ihres Pullovers hochgekrempelt. Auf den nackten Unterarmen konnte Melinda klar und deutlich das Bären-Tattoo erkennen. Sonja stand neben ihr und stieß gerade eine Schaufel in den Boden. Herr Kessler hatte die Frauen offenbar beim Umgraben eines Beetes fotografiert. Mit dem Foto in der Hand ging Melinda ein Stück in den Garten hinein, wo das Licht besser war. Angestrengt starrte sie auf Sonjas Nacken, der von der seitlich einfallenden Sonne in ein weißes Licht getaucht wurde. Melinda schluckte. Waren das dort wirklich schwarze Linien am Hals? Waren das tatsächlich das Fell und der scharfe Reißzahn eines Hundes? Und wenn ja, was hatte das verdammt nochmal zu bedeuten? Weshalb trugen Ninas Schwester Sonja und Stella dasselbe Motiv im Nacken? Melinda brauchte eine Lupe oder noch besser, sie benötigte professionelle Hilfe aus dem Präsidium. Melinda fotografierte das Bild mit ihrem Handy und schickte es zusammen mit einer Nachricht an Arndt.
Da du ja jetzt häufiger in Lissis Studio abhängst, bereitet es dir doch bestimmt keine Probleme, sie den Nacken der rechts stehenden Frau auf dem Foto nach einem Tattoo absuchen zu lassen ...! Resultate nehme ich gerne morgen bei Beas Lesung entgegen. Infos über Richard Harms nicht vergessen! Danke!
Zwinker-Smiley. Nach oben gestreckter Daumen.
![](https://img.wattpad.com/cover/139340503-288-k76439.jpg)
DU LIEST GERADE
Pilzgericht (Krimi)
Mystery / ThrillerDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...