Spaten und Spitzhacke hatten sie heute Abend nicht gebraucht. Zum Glück. Zippos und Silvas Pfoten waren weicher und gruben behutsamer. Nach dem was der Schein der Taschenlampe ihnen zeigte, schien das Skelett bis auf die fehlenden Knochen unbeschädigt. Melinda schoss fix ein paar Bilder mit dem Handy. Holzstand, Loch, Knochen, Detailaufnahme Hand und Arm und Rippen. Arndt hatte sich etwas abseits positioniert und rief noch einmal Skagen an, um ihn mit der Recherche nach Familie Abels Kontaktdaten zu beauftragen. Sie mussten so schnell wie möglich informiert werden, bevor der in einen weißen Schutzanzug gehüllte Helmholtz auftauchte und in ihrem Garten eine Leiche exhumierte. Bereits fünf Minuten später rief Skagen zurück und gab ihm eine Telefonnummer durch. Da Arndt nichts zu schreiben bei sich hatte, drückte er sie mit einem herumliegenden Stock in den frisch gefallenen Schnee. Dann wählte er Helmholtz' Nummer. Er musste es lange klingeln lassen bis jemand abnahm. Sigi war mies drauf. Arndt hatte ihn bei der neuesten Folge von Game of Thrones gestört, ein niemals wieder gutzumachendes Verbrechen.
»Sigi, du erinnerst dich an den Fall Stella Blume?«
»Wie könnte ich das nicht?«
»Es gibt eine zweite Leiche.«
Kaugummischmatzen und ein Aufstöhnen.
»Gibt es etwa einen Zusammenhang zu ...?«
Arndt sah zu Melinda hinüber, die gedankenversunken vor dem Erdloch hockte. Ihre Körperhaltung wirkte, als wollte sie das Skelett am Herausklettern und dem heimlichen Verschwinden im Dunkel der Nacht hindern.
»Scheint so, Sigi. Kommst du her?«
»Ich komme. Zwanzig, dreißig Minuten dauert's aber schon.«
»Ach, und noch was Sigi. Sprichst du dich bitte mit den Besitzern des Gartens ab! Es wäre doch blöd, wenn sie erst auf Umwegen erfahren, dass in ihrem Garten ein Mensch vergraben liegt.«
»Weshalb machst du das nicht selbst?«
Arndt hörte, wie Sigi den Ton des Fernsehers leiser stellte. Eine Chipstüte knisterte.
»Bea gibt heute Abend eine Lesung. Melinda und ich ...«
Sigi brummte irgendwas Unverständliches in seinen Bart. Arndt gab ihm die Telefonnummer der Abels durch.
»Abels haben garantiert einen Schlüssel fürs Gartentor. Du musst nicht durchs Zaunloch kriechen ...« Weitere Details behielt er für sich.
»Ach und noch was, Sigi. Dein Bericht geht bitte direkt an mich!«
Schweigendes Unverständnis am anderen Ende der Leitung. Arndt beschrieb Sigi noch die genaue Lage des Gartens, bedankte sich überschwänglich für seinen Einsatz und legte auf. Dann ließ er das Handy in der Manteltasche verschwinden, klopfte sich die Hose ab und inspizierte den Rest seiner Klamotten nach möglichen Löchern.Arndt und Melinda blieb nichts anderes übrig, als denselben Weg zurück zu nehmen, auf dem sie hergekommen waren. Als sie wieder vor dem verwilderten Garten standen, sahen sie nicht besser aus als vorher. Im Gegenteil. Noch fünfzehn Minuten bis zum Beginn der Lesung.
Melinda musterte Arndts Mantel, seine Hose, das Hemd, sein Gesicht.
»Wenn wir die Mäntel ausziehen, dann geht's! Hände und Gesicht waschen wir uns in der Bücherei. Wir nehmen mein Rad. «
»Wie bitte?«
»Wir nehmen mein Rad! Der Gepäckträger ist gemütlicher, als du denkst!«
Melinda nahm Zippos Leine, brachte den Hund in die Hütte und kam kurze Zeit später mit dem Fahrrad und zwei Bananen in der Hand zurück. »Auch eine?« Arndt griff beherzt zu. Er war vorhin kaum zum Essen gekommen.Fünf Minuten vor Beginn der Lesung erreichten sie den Eingang der Stadtbücherei. Zum ordentlichen Abstellen und Abschließen des Rades blieb keine Zeit. Melinda ließ es einfach gegen einen der verschneiten Büsche fallen. Arndt rieb sich den Hintern. Keine zehn Sekunden länger hätte er es auf dem knallharten Gepäckträger ausgehalten. Die rostigen Metallstreben hatten ihm wie Grillzangen ins Fleisch gedrückt.
Sie eilten durch die Eingangstür und zur Garderobe, wo sich die WCs befanden. Nachdem sie sich frisch gemacht hatten, liefen sie zwischen den Regalen hindurch zu den Stuhlreihen, die bis auf wenige Plätze besetzt waren. In der vorletzten Reihe fanden sie zwei leere Stühle und setzten sich geräuschlos. Melinda fiel ein, dass sie ihre Eintrittskarte vergessen hatte. Sie sagte es Arndt, doch der hatte seine ebenfalls zu Hause liegengelassen. »Einmal Beamtin, immer Beamtin«, flüsterte er ihr zu. Sie lächelte ihn dankbar an. Das Licht in der Bücherei war heruntergedimmt, nur über dem Lesepult leuchtete ein freundlicher Spot und tauchte Bea in ein gemütlich orange-gelbes Licht. Neben ihr auf einem Stehtisch stand neben einem Kerzenleuchter ein großer Becher mit Weihnachtsmotiv, aus dem es einladend dampfte. Glühweinaroma erfüllte die Luft. Arndt streckte die Nase in die Luft. Melinda spürte, wie sich etwas in ihr löste, wie die Anspannung der letzten Tage von ihr wich. Den Gedanken an den in Abels Garten herumkriechenden Sigi Helmholtz versuchte sie so gut es ging zu verdrängen. Jetzt beugte sich eine dünne Frau zu Bea hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Melinda erkannte sie als jene Frau, die sie vor einigen Tagen am Ausleihtresen kennengelernt hatte. Heute Abend trug sie die grauen Haare kurz und hatte dezenten Lippenstift aufgelegt. Ihr dunkelblauer Hosenanzug war von erlesenem Geschmack. Sie schien sehr zufrieden. Ein pausbäckiger junger Mann, der offenbar für die Technik zuständig war, stellte etwas am Mikrofon ein. »Eins zwei, eins zwei, Kartoffelbrei!« Er grinste breit, als hätte er den Witz des Jahrhunderts gerissen und schleicht zurück zu seinem Platz in Reihe vier. Zwei Reihen vor ihnen entdeckt Melinda Bullerjahn, der ihr zuwinkt. Seine Lippen formen tonlos die Worte »Wo wart ihr?«. Melinda kann nicht anders reagieren, als die Augen zu verdrehen. Allmählich ordnet sich das Gewusel. Wer bisher noch herumlief oder herumstand, lässt sich auf einen Stuhl nieder, räuspert sich, faltet die Hände, lächelt erwartungsvoll. Eine junge Frau dreht sich um und winkt Melinda unter Einsatz ihres ganzen Körpers zu. Fast hätte sie sie nicht wiedererkannt. Sophie trug die frisch gefärbten Haare zu einem Nest aufgetürmt, war stark geschminkt und hatte sich heute Abend für einen Zweiteiler mit Rentieraufdruck entschieden. Melinda empfand den Auftritt als sehr gewagt, doch der neben Sophie hockende Jannik konnte sie offenbar vor lauter Verliebtheit nicht aus den Augen lassen. Hinter einem langen Tisch mit dunkelgrüner Tischdecke saß eine rothaarige Frau und sortierte die vor ihr liegenden Bücherstapel. Melinda las Titel wie »Mord im Waldgasthaus«, »Quickly inflamed«, »Rauschende Tannen, pochende Herzen«, »Liebesglück zu dritt« und »Schneegestöber«, wobei der letztere der Titel in doppelt und dreifacher Stückzahl gegenüber den anderen Büchern vorhanden war. Ein kleiner Aufsteller verwies auf die Buchhandlung Riemenschneider am Martin-Luther-Platz. Hier würde Bea im Anschluss an ihre Lesung Bücher signieren.
Die dünne Frau hielt jetzt ein Mikrofon in der Hand. Sie wünschte allen Gästen einen wunderbaren Abend, stellte sich als die Leiterin der Stadtbücherei Frau Pommerening vor und begrüßte mehrere VIPs in der ersten Reihe, unter ihnen die stellvertretende Bürgermeisterin Frau Wiedehopf, Herrn Ehrlich vom Stadtmarketing und Herrn Kuhn von der Buchhandlung Riemenschneider. Des Weiteren den Inhaber von »Feinkost Werner«, der am heutigen Abend für die Glühweinverkostung zuständig war und einen grauhaarigen Mann mit Pferdeschwanz und rotem Schlips, den sie zu Melindas und Arndts Erstaunen als programmverantwortlichen Mitarbeiter des NDR vorstellte. Langanhaltendes Klatschen. Arndt beugte sich zu Melinda hinüber: »Kommt Beas Geschichte jetzt auch ins Fernsehen oder was?« Melinda zuckte mit den Schultern. Arndt roch so gut nach Gartenerde und grünem Gestrüpp. Er hätte ihr gern noch mehr Dinge ins Ohr flüstern können.
Frau Pommerening stellte nun Bea vor. Stolz auf heimische Autorin. Erste Lesung vor großem Publikum. Selfpublisherin mit hoher Reichweite. Verlagsangebote in greifbarer Nähe. Mögliche Verfilmung ihrer Geschichten fürs Fernsehen und so weiter. Melinda hoffte inständig, dass es bald losging, sie mit Bea ins heimelige Schneegestöber aufbrechen und für kurze Zeit alles um sich herum vergessen konnte. Das Licht wurde noch einmal gedimmt, bis es so wirkte, als erhellten nur noch die Kerzen den Raum zwischen den Bücherregalen. Frau Pommerening wünschte gute Unterhaltung.Melinda fand, dass Bea wunderschön aussah. Sie trug eine weiße Bluse, einen geschmackvollen, geblümten Rock, eine dezente Halskette mit hellblauem Medaillon. Nur die rot lackierten Fingernägel hätte sie sich ihrer Meinung nach schenken können. Bea wirkte selbstsicher. Die Nervosität bei ihrer letzten Begegnung im Präsidium war wie weggeblasen. Sie schlug das Buch an der mit einem Papierstreifen markierten Stelle auf und begann zu lesen. Bereits nach wenigen Minuten betete Melinda zu Gott, dass Bea nie wieder in ihrem Leben etwas anderes tun durfte, als Geschichten zu schreiben und sie anderen vorzulesen. Ihre Stimme klang warm und weich, stark und überzeugend, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Melinda sah es den anderen Gästen an, sie empfanden ebenso. Selige Gesichter, leicht blöde grinsende Münder, glänzende Augen, als wären sie alle Kinder und säßen unterm Weihnachtsbaum. Die Geschichte war gut, richtig gut sogar. Weihnachten. Eine einsame Hütte in den Bergen. Viel Schnee. Viel Liebe. Ein junges Pärchen, das seinen Weg im Leben noch sucht. Ein fremder Mann (oder eine Art Bergungeheuer) schleicht ums Holzhaus. Was Bea aus dieser zugegebenermaßen simplen Story entwickelt hatte, war faszinierend, besaß Tiefgang und missachtete bewusst alle Genregrenzen. Melinda liebte das. Genau diese Art von Büchern würde Maria Zucker schreiben, wenn sie jemals damit begann. Melinda hoffte inständig, dass sich Herr Kessler, ihr Gartennachbar, nicht an das Versprechen erinnerte, als Erster den neuen Zucker-Krimi zu lesen zu bekommen.
Nach kurzweiligen eineinhalb Stunden beendete Bea die Lesung. Lang anhaltendes Klatschen, Füßetrampeln, vereinzelte Rufe nach einer Zugabe, begeisterte Pfiffe. Die Botschaft war eindeutig, auch wenn niemand sie ausprach. Wenn ihr wissen wollt wie es weitergeht, lest »Schneegestöber«. Für nur 14,99 € am Büchertisch der Buchhandlung Riemenschneider. Frau Pommerening konnte gerade noch anmerken, dass es am Tisch zur Rechten Glühwein und Kekse gäbe, als bereits die Leute aufsprangen und den Büchertisch stürmten. »Happy Christmas!« rief Bea, warf Bullerjahn, Melinda und Arndt einen Luftkuss zu, griff sich ihren Glühweinpott und begann mit dem Signieren.Sophie kam mit Jannik an der Hand zu ihnen. »Voll schön, oder! Frau Dausend ist voll talentiert! Kaufst du mir auch ein Buch, Jannik?«
Jannik tat so als hätte er die Bitte nicht gehört, zog dann aber sein Portemonnaie heraus und verschwand in Richtung Büchertisch. Als er zurück kam und Sophie das Buch mit Beas Unterschrift in die Hand drückte, zog Melinda die beiden ein Stück außer Hörweite.
»Dein Fund war echt Bombe, Jannik! Der Name Iris Brandt hilft uns wirklich weiter! Und du?«, sie sah jetzt Sophie an, »hast du im Osteroder Nachtleben schon was über unsere Tote herausgefunden?«
Sophie blätterte versunken in Beas Roman. »Nee. Ist doch erst Freitag. Heute Abend vielleicht. Oder morgen. Sorry!«
Bullerjahn kam zu ihnen. Es war lange her, dass sie so zusammengestanden hatten. Wenn sie es genau betrachtete, dann hatten sie niemals wirklich Zeit gehabt, als Team zusammenzuwachsen.
Bullerjahn boxte Jannik freundschaftlich an die Brust.
»Und Kollege, alles klar bei dir? Was treibt dein alter Herr?«
»Er hat eine neue Servierkraft. Morgen öffnet das Lokal wieder!« Bullerjahn streckte zustimmend den Daumen in die Luft. Jannik fühlte sich unwohl in der Runde. Er spürte Geheimnisse und unausgesprochene Dinge, die unsichtbar zwischen Melinda und ihren Kollegen waberten. Was war hier los? Arndt brach das Eis.
»Bea hat das wundervoll gemacht, Mattias! Kannst stolz auf sie sein.«
»Das kannst du glauben!« Er wies mit dem Kopf hinüber zu den Gästen, die sich bereits mit Glühwein und Keksen eingedeckt hatten, schlürften und kauten und sich dabei angeregt unterhielten.
»Der Fuzzi mit dem Pferdeschwanz da hinten ist vom NDR. Stellt euch vor, die wollen aus ihrem Roman ein Drehbuch machen! Ich fürchte, das Präsidium muss sich bald eine neue Verwaltungskraft suchen!«
Alle lachten. Dann zog Arndt los und holte Glühwein für alle. Jannik half ihm.
Es blieb nicht bei einem Pott. Ein zweiter, dritter und vierter folgte bis schließlich nur noch etwas mehr als zehn Gäste herumstanden, der Büchertisch leergekauft und Beas Finger wundgeschrieben waren. Das Licht wurde wieder heller gedreht und Frau Pommerening wies mit freundlicher Stimme auf das Ende der Veranstaltung hin. Jannik und Sophie waren schon vor einer Stunde verschwunden. Jetzt war es kurz nach elf. Bea schlug vor, noch zu einem kleinen Umtrunk ins nahegelegene Scheffelstübchen zu gehen. Keiner widersprach und so zog die kleine Festgesellschaft von der Stadtbücherei in die Kneipe während Sigi Helmholtz im verschneiten Garten hockend Arndts Nummer wählte, um ihm von seiner Entdeckung zu berichten.
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Pilzgericht (Krimi)
Mystery / ThrillerDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...