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Unwirklicher konnte sich eine Situation nicht anfühlen! Eben noch hatte sie den Sternenhimmel, die Ruhe, die wohltuende Lichtlosigkeit genossen, und jetzt das! Schweigend lief sie hinter Bullerjahn her. Dabei blickte sie die ganze Zeit auf den matschigen Trampelpfad und ihre Schuhe, als könne sie noch verhindern, gleich vor einem toten Menschen stehen zu müssen.

Hinter einer dichten Kieferschonung wurde es plötzlich hell. Sehr hell. Melinda hielt sich die Hand schützend über die Augen. Vier Stative, auf jedem ein Strahler. Schon immer waren ihr die ausgeleuchteten Tatorte wie Drehorte für einen Film erschienen. Perfektes Licht, perfekte Schatten. Unwirkliche Farben, scharfe Konturen. Wer sagte ihr eigentlich, dass es nicht genau so war, dass alles speziell für sie und Bullerjahn hier aufgebaut worden war, dass alles nur vorgetäuscht, alles umkehrbar war? Die Toten waren es, die ihr sagten, dass es anders war, dass es sich nicht um ein Spiel, sondern um blutigen Ernst handelte. Die Toten waren es, die ihnen, den Ermittlern, den Spezialisten in Todesfragen einen unmissverständlichen Auftrag erteilten.

Melinda nahm die Hand wieder herunter und ließ die Szenerie auf sich wirken. Eine Manege aus Licht, Moos, umgestürzten Bäumen, trockenen Ästen und schlanken Fichtenstämmen, deren Kronen über ihr in der Dunkelheit verschwanden. An den Rändern der Manege war es finster. Finster und undurchdringlich. Stand dort hinten jemand? Vielleicht der Wandersmann, der sich vergewissern wollte, dass sie ihren Job machte?

Die Kollegen Kerner und Aust saßen auf einer Gruppe verwitterter Findlinge außerhalb des Scheinwerferlichts. Melinda sah ihnen an, dass sie gern woanders gewesen wären. Zu Hause bei ihren Familien, in der Lieblingskneipe oder im Präsidium, wo um diese Zeit nichts Aufregendes mehr passierte. Auch Revierförster Dressler hielt sich abseits. Helmholtz, der Kollege von der Spurensicherung, schien als einziger etwas zu tun zu haben. Er hockte auf dem Boden, kehrte ihnen jedoch die ganze Zeit über den Rücken zu. Ihre Ankunft schien er nicht bemerkt zu haben.

Melinda sah ihn von etwas Dunklem, Sackartigen, das vor ihm auf dem Boden lag, eine Probe nehmen, die er anschließend in einen Beweismittelbeutel steckte. Bullerjahn griff in einen geöffneten Aluminiumkoffer, der neben Helmholtz stand, und reichte Melinda ein Paar Einmalhandschuhe.

„Ein Pfefferminzkaugummi, Siggi?"

Bullerjahn wedelte mit einer Packung Sparemint herum. Das schien das entscheidende Signal gewesen zu sein. Helmholtz richtete sich auf und drehte sich zu ihnen herum.

„Ihr seid da, wie gut! Gibt einiges zu sehen, denke ich!"

Er wirkte gut gelaunt, geradezu euphorisch. Seine hellen Augen blitzten. Er war frisch rasiert und beäugte Melinda neugierig.

„Neu dabei?"

Ohne hinzuschauen zog er Bullerjahn das Kaugummipäckchen aus der Hand, entnahm ihm einen Streifen, wickelte ihn aus und steckte ihn sich in den Mund.

„Meine Kollegin Melinda Sieben. Melinda, das ist Siggi Helmholtz, unser Trüffelschwein."

„Willkommen Melinda Sieben! Einen interessanten Namen haben sie da."

„Danke! Siggi, das Trüffelschwein ist aber auch nicht übel!"

Das war blöd, doch ihr war spontan nichts anderes eingefallen.

„Das Buffet ist eröffnet. Bitte sehr!"

Mit diesen Worten trat Helmholtz zur Seite und überließ ihnen das Feld, nur um sich ein paar Meter weiter hinten  wieder auf den Waldboden zu knien und dort mit seinen Untersuchungen fortzufahren.

Melinda erkannte nun, um was es sich bei diesem sackartigen Ding auf dem Boden handelte. Viel mehr noch als vorhin wünschte sie sich, dass alles hier nur ein Filmset war, dass sie einfach wieder gehen konnte, wenn die innere Stimme ihr sagte, dass es genug war. Leider würde dieser Wunsch niemals Wirklichkeit werden. Nicht, weil sie nicht konnte, sondern weil sie es aus tiefstem Herzen gar nicht wollte. Sie hatte gemeinsam mit Arndt den Brandstifter überführt, wobei sie die treibende Kraft gewesen war. Sie wollte, dass alles wieder so wurde wie es einmal gewesen war. Sie wollte wieder eine der Besten werden. Sie kroch doch vor einem Freisler nicht zu Kreuze!

Vor ihnen kniete ein Mensch, von Kopf bis Fuß in eine dunkelbraune Robe gehüllt. Sein Körper war nach vorn gefallen, das Gesicht in einem Korb voller verdorbener Waldpilze vergraben. Eine weite Kapuze verbarg Schädel und Haar. Melinda sah kleine, bleiche Maden, grünblauen Schimmel, schleimige Stiele und Kappen. Die Maden, sie lebten, und sie ernährten sich schon lange nicht mehr nur von den Pilzen. Melinda spürte wie sich ihr Magen zusammenzog.

„Willst du?" Bullerjahn zeigte auf die Kapuze.

Melinda schüttelte den Kopf. Vielleicht beim nächsten Mal.

Herr Dressler verkündete, dass er zu seinem Wagen gehen und den Hund nach Hause bringen würde. Danach wollte er wiederkommen. Ein gut aussehender Förster in einer mörderischen Filmkulisse. Melinda spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Irgendwie gefiel ihr das.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt