Die unheimliche Erscheinung senkte den Kopf und präsentierte Arndt sein furchterregendes Geweih. Halb Mensch, halb Tier starrte es ihn durch die Windschutzscheibe an, vergewisserte sich seiner Aufmerksamkeit, riss den Kopf dann wieder zurück, drehte sich herum und bewegte sich von ihm fort in Richtung Stadt. Bevor die Kreatur im Schneegestöber verschwand, startete Arndt den Wagen und folgte ihr. Lief das Wesen auf Füßen, auf Hufen, auf Klauen? Schwebte es? War es eine Mischung aus beidem? Arndt hätte es gern gewusst, doch vielleicht war das jetzt egal. Es lockte ihn, wollte ihm etwas zeigen. Auf dem Weg über die schmalen Straßen der Altstadt kamen ihm immer wieder Autofahrer entgegen. Auf dem Bürgersteig sah er Kinder, die Schlitten hinter sich herzogen, dick eingepackte Fußgänger und Frauen mit Einkaufstaschen. Keiner von ihnen schien den Hirschmann wahrzunehmen. Niemand verdrehte den Kopf, verzog das Gesicht vor Entsetzen oder wies mit zitternder Hand in den wirbelnden Schnee. Niemand von ihnen konnte ihn sehen. Der Hirschmann war nur für ihn gekommen.
Auf Höhe des Landratsamts musste er an einer Kreuzung halten und verlor das hin und herpendelnde Geweih für einen Augenblick aus den Augen, doch nachdem er abgebogen war, kam es wieder in Sicht. Er nahm die Straße hinauf zum Krankenhaus, bog jedoch vorher links in eine Wohnsiedlung ein. Arndt hatte damit gerechnet, dass ihn der Hirsch zu Grambergs Gasthaus führen würde, aber er hatte scheinbar anderes vor.
Zuerst roch er den Qualm. Dann sah er die Blaulichter. Feuerwehrmänner mit verschwitzten, rußgeschwärzten Gesichtern. Chaotisch gekreuzte Wasserschläuche. Aufgerissene Münder. Hörte raue Befehle. Obwohl er noch nicht hier gewesen war, wusste Arndt sofort, wo er sich befand. Bei Jan Dresslers Haus. Es stand in Flammen. Weshalb hatte der Hirschmann ihn hierhergeführt? Wo war der Forstwirt? Und wo steckte Melinda? Der Hirschmann schwebte jetzt überlebensgroß vor seinem Wagen. Seine Konturen begannen zu zittern und deuteten Spuren von Auflösung an. Das gigantische Geweih schien sich aufzublähen, vereinigte sich mit den tödlichen Flammen des Brandes. Wie eine riesenhafte Drohne schwebte es über der Ruine, wurde für den Bruchteil einer Sekunde vom Feuer verschluckt und tauchte dann wieder daraus hervor. Als der Hirschmann zu ihm zurückglitt und lockend im Schnee der Forststraße verschwand, wusste Arndt, dass er Melinda hier nicht finden würde.
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Pilzgericht (Krimi)
Mystery / ThrillerDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...