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Dormiturat war ein Teufelszeug. Fünf Tropfen davon auf ein Tuch und das Opfer versank innerhalb weniger Sekunden in einen wahren Todesschlaf. Auch nach dem Erwachen hielt die Wirkung noch an. Über viele Stunden wusste man nicht, ob man Männlein oder Weiblein war. Dumm, dass Jan es für den Ausflug in den Wald nicht noch einmal verwenden konnte. Er brauchte Melinda lebendig, bei vollem Bewusstsein und topfit. Schließlich sollte sie ihn zu der Stelle führen, an der Stella ihr Geld verborgen hielt. Während er eine weitere Flasche Bier öffnete und sich Brote für unterwegs schmierte, ging er in Gedanken noch einmal den Plan durch. Melinda durch die Türluke beobachten. Warten bis sie sich erneut auf das Sofa legte. Sie war noch immer schwach. Leise die Tür öffnen. Sich ihr mit angelegtem Gewehr nähern. Sie auf den Bauch drehen. Die Hände mit einem Kabelbinder fesseln. Ihr einen Sack über den Kopf ziehen und sie zum Auto führen. Den Wagen auf Höhe von Hochsitz Nr. 014 versteckt im Wald abstellen. Melinda durchs Dickicht bis zur Pilzlichtung führen. Im Kofferraum lagen bereits eine Spitzhacke und ein Spaten. In die Manteltaschen hatte er zwei Schachteln Ersatzmunition, ein Klappmesser und den Schlüssel zum Waldbunker gesteckt. Silva wollte er während der Aktion im Haus lassen. Er war ja bald zurück.
Ein Kribbeln durchfuhr seinen Körper. Es fühlte sich an wie die Vorbereitung einer Jagd. Wer gut und sorgfältig plante, wer die beste Ausrüstung besaß, der setzte am Ende den entscheidenden Schuss und triumphierte. Jan malte sich aus, wie er mit leichter Brust dem Möbelhaus Eichner und der Autowerkstatt Hinrichs das ausstehende Geld überwies. Wie er Herrn Böhmer von der Hausbank anrief und ihm mitteilte, dass alles in bester Ordnung, das Konto in Kürze mehr als gedeckt sei. Wenn es stimmte, was Stella ihm gegenüber angedeutet hatte, dass sie ein verdammt gefährliches Ding gedreht hatte und über mehr Geld verfügte als sie ausgeben konnte, sich Reisen in entfernteste Länder gönnte und trotzdem genug bis zum Lebensende übrig war, dann durfte er auf wahrhaft goldene Jahre hoffen. Vielleicht würde er sogar seinen Beruf an den Nagel hängen und endlich das machen, was er schon immer gewollt hatte. Noch vor Beginn des Weihnachtsfests konnte er hier weg und über alle Berge sein. Voller Euphorie leerte er die Bierflasche und aß das letzte Stück Mettwurst. Ein Blick aus dem Fenster sagte ihm, dass der starke Schneefall noch immer anhielt. Das Wetter meinte es gut mit ihm. Die Natur stand auf seiner Seite. Sie schickte ihm einen dichtgewebten Kältevorhang, der jede Spur verbarg.
Jan machte sich bereit. Zog den schweren Lodenmantel über, schlüpfte in die kniehohen Lederstiefel, brachte die Gamaschen an und setzte sich die Pelzmütze mit den Ohrklappen auf. Er schulterte den Rucksack, klemmte den leeren Kartoffelsack hinter einen der Riemen und griff sich das Gewehr. Nachdem er Silva noch einmal den Kopf gestreichelt und ihr ein paar warme Worte zugeflüstert hatte, stieg er hinab in den Keller. Aus der Werkstatt holte er einen Kabelbinder. Er entschied sich für einen schwarzen. Es war, wie er gehofft hatte. Melinda lag auf dem Sofa. Sie schlief. Er sah es an dem gleichmäßigen Auf und Ab ihres Brustkorbs. Behutsam drehte er den Schlüssel im Schloss und schob die Tür auf. Mit einem flüchtigen Blick durchs Zimmer vergewisserte er sich, dass alles an seinem Platz war. Genaugenommen hätte er es sich sparen können, denn schon zu Stellas Zeiten enthielt dieser Raum nichts, womit man sich selbst oder andere gefährden konnte. Und sollte Melinda es dennoch versuchen, so würde er nicht zögern sehr grob zu ihr zu werden. Während er sich ihr leise näherte, hielt er die ganze Zeit die Gewehrmündung auf ihren Kopf gerichtet. Es war ein leichtes, sie mit einem festen Griff auf die Seite zu drehen und ihre Hände auf den Rücken zu ziehen. Für die Befestigung des Kabelbinders musste er das Gewehr kurz auf den Boden legen, doch das war kein Problem, Melinda war noch immer zugedröhnt genug. Gerade als er das gezahnte Plastikband durch die Schlaufe führen wollte, hörte er draußen im Garten jemanden brüllen.
»Dressler! Der General scherzt nicht! Er droht niemals ohne Konsequenzen! Und wenn jemand seine Mitarbeiter attackiert, dann schlägt er doppelt und dreifach zurück!«
Jan begann zu zittern. Weichling! Weichling, dröhnte es in seinem Kopf. Vergeblich versuchte er, sich zu beruhigen. Das Plastikband wollte und wollte nicht an seinen Platz. Melindas Hände baumelten noch immer frei hinter ihrem Rücken. Noch immer schlief sie, gab keinen Mucks von sich. Es sollte ihm recht sein. Wichtig war, dass sie nachher im Wald auf den Beinen stand. Er schnappte sich das Gewehr und lief zum Kellerfenster. Jan hörte eine Flüssigkeit gegen die Hausmauer klatschen. Kurz darauf stieg ihm der schwindelerregende Gestank von Benzin in die Nase. Im Erdgeschoss klirrte eine Scheibe. Stiefel knirschten durch den Schnee. Es mussten drei oder vier Männer sein.
»Wer dem General nicht gibt, was ihm gebührt, dem nimmt er alles und wenn es das Leben ist!«
Ein Verbrecher mit Hang zu schönen Worten, dachte Jan. Wenn er das Geld nur schon hätte. Wenn er es nur schon hätte! Dann könnte er es dem General einfach in die Hand drücken, meinethalben auch verzinst, und er würde Ruhe geben. Kurzentschlossen warf er sich die schlafende Melinda über die Schulter. Zu spät bemerkte er, dass an der Wand über dem Sofa etwas fehlte. Der Glasrahmen mit der Stickerei seiner Mutter. Glück im Spiel, Geld in der Liebe. In diesem Moment erwachte Melinda zum Leben. Jan gewahrte ein Aufblitzen. Kurz darauf bohrte sich etwas Spitzes schmerzhaft und tief in seinen Rücken. Er stöhnte, riss reflexhaft den Gewehrkolben hoch und schlug ihn Melinda auf den Hinterkopf. Sie strampelte, wollte sich losreißen. Er schlug noch einmal zu, dann noch einmal, bis sie erschlaffte. Blut tropfte auf den Boden. Ob es Melindas oder sein eigenes war, konnte er nicht sagen. Es war auch egal. Oben ging ein weiteres Fenster zu Bruch. Der Geruch nach verbranntem Holz stieg ihm in die Nase. Der General und seine Schergen waren dabei, das Jagdhaus abzufackeln. Das Gewehr im Anschlag lief Jan die Kellertreppe hinauf, versicherte sich mit flüchtigen Blicken, dass keiner der Unholde im Haus war, lief durch den Flur und verließ das Haus durch die Eingangstür. Hinter ihm brannten bereits das Wohnzimmer und die Küche, aus dem Obergeschoss drang dichter Qualm.

Der Geländewagen war glücklicherweise unverschlossen. Jan riss die Hintertür auf und schmiss Melinda auf die Rückbank. Er hoffte, sie mit den Gewehrschlägen nicht getötet zu haben. Er brauchte sie doch noch! Gerade als er auf den Fahrersitz springen wollte, kam einer der Männer um die Hausecke gehastet, zeigte auf ihn und rief den anderen irgendein unverständliches Zeug zu. Jan zog das Gewehr, legte an und schoss dem Mann in die Brust. Schlaff wie eine Schlenkerpuppe sackte er in den Schnee.

Jan legte den Rückwärtsgang ein. Viel zu schnell schoss er aus der Ausfahrt. Beinahe hätte er die schwarze Limousine gerammt. Vermutlich gehörte sie dem General. Noch einmal blickte Jan zu seinem Elternhaus hinauf. Eine Wand aus Feuer. Funken. Flackernde Balken. Herabstürzende Ziegel. Schwarzer Qualm in winterkalter Luft. »Tut mir leid, Silva. Es tut mir so leid!« Er wischte sich eine Träne von der Wange. Auf der Rückbank stöhnte Melinda. Jan ahnte, dass er seinen Plan ändern musste und trat aufs Gaspedal.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt