Gerade als Melinda begann, die Küchenbank für die Nacht vorzubereiten, rief Arndt an. Seine Stimme klang müde.
»Wir sind den Fall los.«
»Ich weiß. Habe heute mit Bullerjahn telefoniert. Er hat gesagt, dass ich aufhören soll, in der Sache herumzustochern.«
»Und?«
Melinda sah zum Fenster hinüber. Versuchte Eiskristalle zu zählen. Sie kam bis fünf. Ließ den Blick über den Spülschrank gleiten, in der sie die Beretta versteckte, spürte die Schwere der Fallakte, gelber Karton, mehr als tausend Seiten Papier, die unter ihrem Hintern wie ein Riesenmurmeltier in der Küchenbank schlummerten.
»Kurz nachdem wir Stella gefunden haben, habe ich mir eine kiefergrüne Spange ins Haar gesteckt. Als Versprechen.«
»Versprechen?«
Melinda spürte das ungeduldige Vibrieren in Arndts Stimme. Ein Hauch des Misstrauens und des Zweifels. Sie musste nicht lange darüber nachdenken, welcher Arndt ihr der liebere war. Der von der Gefangenschaft versehrte, zur Sanftmut bekehrte oder der in seine alten Gewohnheiten zurückgefallene, hemdsärmelige, kopfgesteuerte und zu Grobheit neigende Arndt.
»Ein Versprechen an die falsche Stella, dass ihr Tod nicht ungesühnt bleibt.«
Ein Schmatzen am anderen Ende, als puhle Arndt sich Speisereste aus den Zähnen.
»Verstehe.«
»Dreizehn Stück. Für jede getötete Frau, über die ich mich beugen musste, eine.«
»Und die Männer?«
Melinda sah zu Zippo hinüber, der sich vor dem Ofen ausgebreitet hatte und schlief. Den Fressnapf hatte er bis auf den letzten Krümel geleert, der Wassernapf war noch halb voll.
»An die erinnert man sich so oder so. Die brauchen keine Gedenk-Klemme.«
Arndt lachte, als hätte sie gescherzt. Melinda verstand es als Warnung, das Thema an dieser Stelle nicht zu vertiefen.
»Wie lief die Konferenz?«
»Wir waren nicht dabei.«
»Wie bitte?«
»Waren nicht erwünscht. Ist ja nicht mehr unser Fall.«
Melinda spürte, wie ihr die Galle hochkam.
»Die adrett frisierten Kollegen aus der Landeshauptstadt in ihren gebügelten Uniformen machen auf Fotos mehr her. Du hättest Christiansen sehen sollen. Wie die sich aufgebrezelt hat. Kaum wiederzuerkennen.«
Ein Blick aufs Handy. Die Onlineausgabe des Kreisanzeigers hatte noch immer nicht berichtet.
»War denn viel los?«
»Wenn man von dem Trubel in der Eingangshalle ausgeht, ja. Acht, neun Zeitungen waren da, vielleicht fünf oder sechs Fernsehsender.«
Die Akte in der Küchenbank schien schwerer zu werden. Sie sank nach unten, durchschlug den Boden der Hütte, wühlte sich in die kalte Osteroder Erde und versuchte, Melinda mit sich in die Tiefe zu reißen.
»Morgen wird jeder im Land den Namen Stella Blume kennen.«
Arndt seufzte.
»Und die Stadt wird von Journalisten und Kamerawagen belagert.«
»Danke für das Stella-Bild!«
»Ich dachte, du solltest es zuerst bekommen.«
»Phantombild-Lissi ist auf zack!«
Atempause. Melinda sah Arndt vor sich, wie er sich verlegen am Nacken kratzte.
»Das ist sie. In der Tat.«
Melinda lief ein warmer Schauer über den Rücken. Ihr linkes Augenlid begann zu zucken.
»Die roten Rosen neulich auf Lissis Schreibtisch ...«
Verhaltene Stille am anderen Ende.
»Ich glaub's nicht! Du bist verknallt!«
Arndt räusperte sich. Melinda hörte ihn trinken. Wasser vielleicht oder Kaffee. Er schluckte.
»Weshalb ich anrufe ... Skagen hat die Sache mit der Tätowierung durchs System gejagt. Bär auf Unterarm und Hund im Nacken.«
»Die echte Stella Blume trägt den Hund, die falsche den Bären. Was hat er rausgefunden?«
»Nichts. Also nicht direkt. Der Rechner spuckte immer bloß die gleichen Polizeifotos der echten Stella aus ...«
»Und?«
»Das ist witzig, hör zu! Kein einziger Bär auf einem Frauenarm, nur Wölfe, Mäuse, Ratten, Elefanten, Chamäleons, Kängurus und so was. Aber, und jetzt kommt's, es gibt tatsächlich einen Typen, der beides trägt. Einen Kampfhund im Nacken, auf den Armen jeweils einen Bären und einen Löwen. Aber es wird noch besser.«
Das zuckende Lid gab Ruhe. Im Ofen knisterte das Feuer.
»Kampfhund und Bär gleichen exakt den Tätowierungen der beiden Stellas!«
Die Akte in der Küchenbank hatte ihren Sturz gebremst und begann, langsam wieder nach oben zu tauchen.
»Sie hatten denselben Tätowierer?«
»Möglich.«
»Das würde uns einiges erleichtern.«
»Wie man's nimmt!«
»Oder sie haben dieselben Vorlagen benutzt. Das Internet ist voll davon.«
»Auch möglich.«
»Das würde die Sache verkomplizieren. Wer ist der Kerl?«
Papierrascheln, als würde ein Notizblock aufgeschlagen.
»Ein Richard Harms. Geboren am 07.11.1985 in Paderborn. 2004 bis 2010 Studium der Sozialwissenschaften.«
Melindas Herzschlag beschleunigte sich.
»Wo hat er studiert?«
»In Göttingen.«
Der Puls hämmerte in ihrer Brust.
»Harms verübte 2011 einen Überfall auf einen Rewe-Markt in Cremlingen. Seine Mittäter, man vermutet es waren zwei, entkamen mit 17.000 Euro, er wurde geschnappt. Kam vor einem Jahr aus dem Knast.«
»Und jetzt, wo ist er jetzt?«
»Lebt zurzeit bei seinen Eltern in Paderborn. Sie haben ein kleines Lebensmittelgeschäft.«
»Hat da schon jemand angerufen?«
»Skagen ist dabei.«
Melinda inspizierte die Bank. Sollte sie mit dem Kopf in der Ecke schlafen oder andersherum? Wie verhinderte sie, im Schlaf herunterzurollen und auf den Boden zu knallen? Vergangene Nacht hatte sie den Sturz haarscharf abwenden können, weil sie rechtzeitig erwacht war.
Schritte am anderen Ende. Dann ein knatschendes Geräusch, als würde ein Drache seine Flügel entfalten. Arndt sprach jetzt leiser. »Denkst du dasselbe wie ich?«»Du meinst Harms und die beiden Stellas kannten sich?«
»Denkbar.«
»Glaubst du, sie waren es, die den Supermarkt überfallen haben und getürmt sind?«
»Eher unwahrscheinlich.«
»Warum?«
»Na ja, ich meine, zwei Frauen ...«
»Nicht dein Ernst! Denk mal an das, was die RAF gemacht hat! Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin. Das waren auch Frauen!«Erneut das ledrige Knarzen am Ende der Leitung.
»Sie haben Feierabend gemacht.«
»Wer?«
»Die Spezis aus Hannover.«
»Nennst du sie jetzt so?«
»Ich nenne sie so. Haben nicht mal die Kaffeetassen weggeräumt. Für wen halten die sich?«Melinda hatte sich entschieden. Sie schlief mit dem Kopf in der Ecke.
»Du schnüffelst in ihrer Einsatzzentrale herum?«
»Wir sind Büronachbarn. Außerdem ist das eigentlich dein Raum und die Spezis sind sowas wie Bürobesetzer. Ich brauche bloß die Lamellentüren ein winziges Stückchen öffnen und schon kriege ich alles mit, was bei denen gesprochen wird.«
»Du Fuchs! Kannst du mir die Akte Harms zukommen lassen? Gern auch wieder mit Streuselkuchen.«
Sie hörte Geschirr klappern. Arndt räusperte sich.
»Wird nicht einfach. Christiansen hat die Spezis offenbar vorgewarnt. Die gucken sich genau an, welche Akten und Daten wann und von wem angefordert werden und was Bea für wen kopiert.«
»Und die Lamellentür ist ihnen schnuppe?«
»Sie haben die Stellwände mit den Ermittlungsergebnissen davorgeschoben. Scheint so, als hätten sie nicht auf dem Schirm, dass wir Wand an Wand arbeiten.«
Melinda war zufrieden. Man musste im Leben auch mal Glück haben.
»Ich kann dir die wichtigsten Sachen aus der Harms-Akte herausschreiben und vorbeibringen.«
Ausgeschlossen. Seine hämischen Kommentare wollte sie sich ersparen. Arndt sollte keinen Schritt in ihre lausige Einsiedlerhütte setzen.
»Ein neutraler Übergabeort wäre mir lieber!«
»Woran denkst du?«
»An die Stadtbücherei. Kommst du zu Beas Lesung?«
»Wo denkst du hin! Sie redet seit Tagen über nichts anderes, verteilt Einladungen ans ganze Präsidium. Ihr Krimi hat mir gefallen. Hexenhaus. Schaurig! Schneegestöber ist wohl eher eine Weihnachtsgeschichte, mehr wollte Bea nicht verraten. Das Buch erscheint erst kommende Woche. Wir dürfen also exklusiv lauschen.«
Melinda erstaunte es einmal mehr, wie munter sich Holzfäller-Stil und Sanftmut bei einem Menschen paaren konnten.
»Du kommst also?«
»Natürlich!«
»Und du bringst mir deine Harms-Notizen mit?«
»Ich schaue, was ich tun kann.«
»Ruf mich an, wenn Skagen was rausgefunden hat!«
Neuerliches Tassengeklapper. Räumte Arndt den Spezis etwa das Geschirr hinterher?
»Ich muss jetzt!«
»Hast du ein Date?«
Arndt atmete geräuschvoll durch die Nase.
»Ein Date mit meiner Bude. Überall versperren mir unausgepackte Kartons den Weg. Ich habe mir meine Sachen aus Goslar bringen lassen.
»Das ging fix!«
»War schon seit Wochen geplant.«
Melinda ließ das so stehen. Sie verabschiedete sich und legte auf. Er hatte also von Anfang an sein eigenes Ding gemacht. Wie lange wusste er schon, dass in Bullerjahns Haus eine Wohnung frei wurde? Und was hatte Melinda erwartet? Dass er für sie zusammen eine neue Wohnung fand? Dass er sich um Melindas Zukunft kümmerte?Um kurz nach neun ließ sie Zippo noch einmal in den Garten und hoffte, dass er nicht erneut auf Knochensuche ging. Sie sorgte sich umsonst. Zippo kam nach kurzer Zeit zurück und legte sich wieder vor den warmen Ofen. Melinda blieb in der geöffneten Tür stehen. Ein Viereck aus freundlichem Licht fiel auf die Schneedecke, in dem sich Melindas Schatten deutlich abzeichnete. Kopf, Hals, Oberkörper, Beine. Alles so wie immer, doch als sie sich umdrehte, um hineinzugehen, veränderte sich der Schatten. Dort wo ihr Rücken sein sollte, wölbte sich wie ein Riesenzeck ein Furcht einflößender Buckel. Der Wandersmann wollte die Nacht nicht allein im Garten verbringen.
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Pilzgericht (Krimi)
Детектив / ТриллерDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...