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Für einen Augenblick hatte sie erwogen, zurückzugehen und Jan aus dem Wrack zu ziehen. Zwar hätte sie ihn niemals tragen oder auf irgendeine andere Weise mit sich nehmen können, doch hätte sie versuchen können, ihn vor den bewaffneten Männern zu verstecken. Hinter einem Baum, einem Findling oder in einem Schneeloch. Sie hatte sich dagegen entschieden. Aus Wut. Aus Zorn. Und aus purer Zeitnot. Die drei Kerle waren schneller als gedacht den Abhang heruntergekommen. Selbst aus der Entfernung hatte Melinda die Waffen in ihren Händen erkannt. Mit wem hatte Jan sich da eingelassen? Dass ihn Geldsorgen plagten, hatte sie inzwischen verstanden. Auch dass er Iris um den Finger gewickelt hatte, um ihr das Versteck des geraubten Geldes abzupressen. Wahrscheinlich handelte es sich hier um das uralte Spiel »Was du mir antust, das füge ich dir dreifach zu«.
Ihre Handgelenke brannten noch immer wie Feuer. Bei jedem Schritt schien in ihrem Kopf ein Hammer niederzusausen. Ihre Beine fühlten sich an wie Pudding. Dennoch musste sie weiter. Immer weiter. Hätte sie nicht irgendwann doch angehalten, sich keuchend an einer Tanne abgestützt und zurückgeblickt, so wäre ihr entgangen, was sich weit hinter ihr abspielte, dort wo ihre Schneespur ihren Ausgang nahm, bei dem verunglückten Geländewagen, in dem Jan zusammengekrümmt auf Hilfe wartete. Eine ohrenbetäubende Detonation erschütterte den Wald. Gleichzeitig stieb ein gleißender Feuerball in die Luft, entzündete Baumstämme und Zweige, ließ sie lichterloh aufglühen. Funken regneten wie glühendes Konfetti aus wintergrauem Himmel. Über Melinda waberte eine dunkle Wolke voller Ruß und Benzingestank. Sie rannte los, stolperte, stieß sich das Knie schmerzhaft an einem Fels und raffte sich wieder hoch. Die drei Kerle, sie folgten ihr! Feixend, sich gegenseitig in die Seite knuffend. Wie dumme Schuljungen, die ihrem Lehrer einen Streich gespielt haben. Melinda spürte wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Tränen des Zorns, Tränen der Verzweiflung, die auf ihrer Haut zu Eis gefroren. Wie stand es um ihre Schießkünste? Würde es ihr gelingen, die Schurken mit ihrem Jagdgewehr auszuschalten? Sie ließ die Hände in die Manteltasche gleiten und fand zu ihrer Bestürzung nur noch zwei Patronen darin. Sie musste die anderen bei ihrem Sturz verloren haben! Umkehren war keine Option. Weiter. Nur weiter. Zum Glück waren das Handy und Jans Schlüsselbund noch da!
Nur noch wenige Meter und sie hatte die Kuppe erreicht. Doch der Schnee lag jetzt höher. Das Gehen war mühevoll. Melinda sah bereits den Himmel zwischen den Bäumen. Die Männer waren sehr nah. Sie hörte, wie sie sich zotige Bemerkungen zuriefen. Kamen die denn niemals aus der Puste? Sie waren nicht mit einem Wagen den Abhang hinabgestürzt. Sie hatten keine Schläge auf den Kopf bekommen und sie waren nicht mit einer fiesen Chemikalie betäubt worden. Melinda hörte, wie Pistolen geladen wurden. Ritsch ratsch. Sie schmiss sich hinter die nächstbeste Kiefer, riss das Jagdgewehr herum und wollte gerade abdrücken, als sie merkte, wie sich neben ihr ein dunkler Schatten bildete. Ausgreifend, mächtig. Der Wald schien den Atem anzuhalten. Melinda sah die Männer abrupt stoppen und hinauf in die Baumkronen starren. Langsam drehte sie den Kopf und sah mehrere Baumstämme neben sich, die vor wenigen Sekunden noch nicht dort gewesen waren. Sie sah Muskeln, Sehnenstränge. Darüber einen mächtigen Körper. Ob er menschlich oder tierisch war, vermochte sie nicht zu sagen. Sie wusste nur, dass sie ihn kannte, dass er ihr vertraut war wie ihr eigener Körper. Die Erscheinung war gigantisch. Ihre äußeren Grenzen verloren sich irgendwo dort oben zwischen den schneebedeckten Ästen. Und dann sah sie es. Ein Geweih. Ausladend wie ein Kastanienbaum und kräftig wie die Beine eines Mannes. Der erste Scherge hob seine Pistole und schoss. Drei Mal. Sein Kollege löste sich aus seiner Erstarrung und tat es dem ersten nach. Bamm bamm bamm. Plötzlich wurde Melinda in die Luft gehoben, ihre Finger verkrallten sich in etwas Warmem, Flauschigem. Sie schien zu fliegen. Ein strenger Geruch stieg ihr in die Nase und sie wusste, er war da. Ihr Vater, der Schamane, der Hirschmann, das Phantom, der Wandersmann. »Ich bin doch schon groß«, dachte sie, »Ich benötige deine Hilfe nicht!« Und dann: »Ich bin dir unendlich dankbar!«

Das Geschöpf wühlte sich durch die Eiseskälte. Flog es? Lief es? Grub es sich durch erdige Tiefen? Melinda wusste es nicht. Es fühlte sich an wie Tod und Geburt, wie Vergänglichkeit und Auferstehung und alle Grauschattierungen dazwischen und jenseits davon. Es blieb ihr nichts anderes, als zu vertrauen. Und sie vertraute. Hielt aus und übte sich in Gleichmut, verbunden mit der Welt, umhüllt von der Weisheit des Universums. Dann fiel sie. Scheinbar unendlich.

Sie schlug die Augen auf und wusste sofort wo sie sich befand, obwohl sie diesen Ort noch niemals zuvor gesehen hatte. Jan Dresslers Jagdhütte. Sie sah sich um. Das Gewehr war verschwunden. Ihr fehlte ein Stiefel. Sie drehte den Kopf und sah die Umrisse dreier Männer am Waldrand auftauchen. Hektisch zog sie das Handy aus der Manteltasche und schrieb Arndt eine Nachricht. Dresslers Jagdhütte. Drei bewaffnete Typen belagern mich. Beeil dich!

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt