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Um ein Uhr quälten sie sich durch das Kantinenmenü und besprachen dabei die letzten Punkte des Berichts. Er war so formuliert, als wären die Ermittlungen ausschließlich am Schreibtisch und nur mit Hilfe der Fallakten erfolgt. Laut Bericht war Bullerjahn erst zum Winkler-Grundstück rausgefahren, als Sebastian Winkler unzweifelhaft als Täter festgestanden hatte. Die Beweislast vor Ort war erdrückend gewesen.

„In fünf Jahren bin ich Pensionär. Was soll mir noch passieren?"

Bullerjahn hatte alles auf seine Kappe genommen. Melinda kamen fast die Tränen. Was war los mit diesem Kauz?

„Und wenn Winkler aus der Klinik raus ist, erwartet ihn ein knackiges Verhör!"

Arndt war froh, dass Bullerjahn den Rest des Falles übernahm und er Winkler nicht noch einmal begegnen musste. Melinda ging es vermutlich ganz ähnlich. Sie würde nicht zögern, Winkler das Ohr einzuschneiden und mit dem Feuerzeug die Haare zu versengen.

Bullerjahn hielt es für sinnvoll, den Bericht zurück zu halten bis Christiansen zurück im Präsidium war. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass Petersen seine Triefnase hineinsteckte und dumme Fragen stellte.

Am Nachmittag brach nach langer Zeit wieder die Sonne durch die Wolken und flutete ihre Büros mit lebensspendendem Licht. Da weder Melinda noch Arndt etwas zu tun hatten, saßen sie einfach an ihren Schreibtischen, passten die Stühle in Höhe und Neigungswinkel ihren Bedürfnissen an, inspizierten die Schubladen und machten sich mit den Funktionen und der Bedienung ihrer Computer vertraut. Sehr weit kamen sie jedoch nicht, denn sie hatten noch keine Passwörter für das Fallarchiv bekommen.

Melinda holte den Zettel mit Elke Schraders Nummer aus der Jackentasche und nahm den Telefonhörer ab. Sie hielt sie inne. Tat sie das jetzt aus Langeweile? Hatte sie sich das wirklich gut überlegt? Tausend Euro für so einen Prachtgarten waren fast nichts! Da konnte sie eigentlich nicht nein sagen. Und dann diese Glücksgefühle vorhin, und ihre spontanen Ideen was sie Herrliches aus dem Grundstück machen wollte. Das waren doch alles Zeichen gewesen! Sie faltete den Zettel wieder zusammen und schob ihn unter das Telefon.

Arndt stand vor seinem Bild und fuhr mit dem Zeigefinger die Pinselspuren nach. Vielleicht sollte er auch mal was mit Ölfarbe malen. Der einsame Mann stand wieder an derselben Stelle wie am Tag ihrer Ankunft. Sein Gesichtsausdruck wirkte nichtssagend.

Am Nachmittag kam dann der Zeitpunkt, wo sie das trostlose Herumsitzen nicht mehr aushielten. Die Schreibtische waren eingerichtet, die Bücheregale durchgesehen und die Zimmerpflanzen gegossen. Arndt strichelte ideenlos in seinem Skizzenbuch herum während Melinda ihren Schreibtisch ein paar Zentimeter weiter zum Fenster rückte. Sie hatte nun einen herrlichen Blick auf die knorrigen Kastanienbäume und den ehemaligen Schulhof. Es fiel ihr nicht schwer, sich den alten Schrader in diese Szene hinein zu denken, wie er mit auf dem Rücken verschränkten Armen, in sicherem Abstand zu den Schülern, dort unten herumschlich, immer auf der Hut, nicht gesehen zu werden. Die Jungen genossen derweil ihre Pause, rannten über den sandigen Platz, jagten einem Lederfußball nach oder unterhielten sich, in kleinen Gruppen zusammenstehend. Melinda hörte ihre Stimmen, ihre Anfeuerungsrufe, ihr Flüstern in versteckten Winkeln beim Betrachten verbotener Lektüren. Sie sah Schraders Habichtblick, sah wie seine Augen die Beute fixierten, wie er abwartete, sich noch zurück hielt, um im nächstbesten Moment loszuschlagen, den anvisierten Jungen von hinten am Kragen zu packen, ihm das Ohr umzudrehen und das Heft mit den Schmuddelbildern aus der Hand zu reißen. All das ging völlig lautlos vonstatten. Schraders Siegerpose, der triumphale Abgang über den Hof, das Wimmern des Jungen, die verängstigten Blicke der Umherstehenden. Totenstille. Nur das Zwitschern der Vögel in den uralten Kastanien war zu hören.

Jemand tippte Melinda zart auf die Schulter und riss sie aus ihrem Tagtraum. Sie drehte sich um. Es war Arndt. Er hatte einen Aktenwagen bei sich, der bereits zur Hälfte mit Ordnern beladen war.

„Bullerjahn will, dass wir ihm beim Ausmisten helfen. Bist du dabei?"

Melinda war froh über Beschäftigung, egal welche.

Die Arbeit war schnell getan. Nicht mehr benötigte Akten kamen ins Archiv, das sich in einem hübschen Holz-Glas-Neubau hinter dem Altgebäude befand. Das Altpapier landete in einer Aluminiumkiste auf Rollen, die am Nachmittag geleert werden würde.

Arndt ließ einen anerkennenden Pfiff hören. Sie standen am Ende des gläsernen Tunnels, der das Altgebäude mit dem Neubau verband.

„Hier würd' ich's auch aushalten!"

„Du würdest Archivarbeit schieben? Wie fantasielos!"

„So bin ich, Kollegin. So bin ich nun einmal! Anspruchslos, bis zur Selbstaufgabe."

Melinda wollte das nicht kommentieren.

Als sie den leeren Wagen aus dem Fahrstuhl schoben, kam Bullerjahn ihnen entgegen. Er blickte auf sein Handgelenk. Arndt fiel auf, dass er keine Uhr trug.

„Das Kantinenessen war heute mehr als mies, und Sie haben meinen Fall gelöst. Es ist mehr als angemessen, dass ich Sie zum Abendessen einlade. Was meinen Sie ?"
Wunderbar, dachte Melinda, einmal nicht in der trüben Gästewohnung sitzen und sich irgendwas zusammenrühren müssen. Arndt stimmte mit einem müden Nicken zu.

Bullerjahn schwärmte vom Gasthaus Gramberg, das über der Stadt, unmittelbar am Wald lag, und die köstlichsten Pilzgerichte des Südharzes zubereitete. Er gehe schon viele Jahre dort essen. Nette Bedienung, gemütliches Ambiente, faire Preise, ein herrlicher Blick ins Tal und über die Stadt. Sie verabredeten sich für sieben auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus.

Als Bullerjahn von dem Gasthaus erzählte, erinnerte Arndt sich wieder an Beas Roman, welcher im Buchladen für ihn zur Abholung bereit lag. Es waren noch fast zwei Stunden bis zum Essen und ein Spaziergang in die Stadt würde ihm gut tun. Melinda hatte sich vorgenommen, in der Zwischenzeit das Schloss an Schraders Truhe näher in Augenschein zu nehmen. Vielleicht bekam sie es mit Schraubenzieher, Haarnadel und etwas Fingerspitzengefühl geöffnet und musste nicht zu einem härteren Mittel greifen, mit dem sie das gute Stück unwiederbringlich zerstören würde.

Um sechs begannen die Glocken der Marktkirche zu läuten. Wie feierlich, wie gewaltig, dachte Arndt während er, noch immer vor der Buchhandlung stehend, die ersten Seiten des Romans las. Das Buch begann spannend und las sich besser als vermutet. Es war keine Liebesgeschichte, ganz und gar nicht, stattdessen gab es bereits auf Seite zwei einen Toten, ums Leben gekommen bei einem Streit am Frühstücksbuffet.

Arndt suchte in der Jacke nach dem kleingefalteten Stadtplan, den Bea ihnen am Freitag gegeben hatte. Er fand ihn in der Innentasche. Ob Melinda wohl Lust hatte zu Fuß zum Restaurant zu laufen? Die zwei Kilometer schafften sie locker bis sieben Uhr.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt