Sie ließ Zippo nicht zum ersten Mal allein, doch jetzt hatte er einen Garten, in dem er sich frei bewegen konnte, was ihr schlechtes Gewissen um einiges minderte. Er war ein guter Wachhund, da war sich Melinda sicher.
Um kurz vor neun parkte sie den Wagen am Waldgasthaus. Täuschte sie sich oder war der Nebel hier oben noch undurchsichtiger als in der Stadt? Den Wald konnte sie nur erahnen und vom Gasthaus sah sie bloß verschwommene Konturen. Gespenstische Schemen hinter einem Schleier aus weißem Nichts. Der hölzerne Mülleimer am Rand des Parkplatzes war umgeschmissen worden. Leere Safttüten, gebrauchte Taschentücher und verbeulte Coladosen schwammen in den grauen Pfützen, die der schmelzende Schnee hinterließ.Ihr Handy klingelte, doch bis sie es aus ihrer Manteltasche gefummelt hatte, war es wieder verstummt. Sie klickte durch die Anrufhistorie. Es war Jan. Einen Augenblick lang erwog sie, zurückzurufen, steckte das Handy dann aber wieder ein. Sie verließ den Wagen und stapfte durch den Schneematsch hinüber zum Eingangstor. Dort wo normalerweise die Speisekarte hinter Glas hing, hatte Erik Gramberg ein Schild angebracht. Heute Ruhetag. Das Tor war unverschlossen. Grambergs schwarzer Wagen stand in der Einfahrt, also war er vermutlich zu Hause. Melinda nahm den Kiesweg zum Restauranteingang und blickte durch die braun getönte Glasscheibe. Die Stühle standen auf den Tischen. Alles wirkte aufgeräumt und blitzeblank. Aus unerfindlichen Gründen beruhigte sie das. Die Tür war abgeschlossen. Natürlich. Sie suchte nach einem zweiten Eingang und fand ihn an der zum Wald gelegenen Seite, inmitten einer Wand aus geschichtetem Brennholz. Zunächst klopfte sie an die Tür. Mehrmals. Als niemand reagierte, drückte sie die Klingel. Es dauerte bis Gramberg die Tür öffnete. An dem zerknitterten T-Shirt, dem offenstehenden Bademantel und den zerzausten Haaren sah Melinda, dass sie ihn aus dem Bett geholt hatte. Er rieb sich die Augen. Sein Blick verriet wohlmeinende Überraschung.
»Frau Sieben!«
»Guten Morgen! Darf ich?«
Gramberg trat zur Seite und ließ sie herein.
»Kaffee?«
»Gern. Ein Tropfen Milch. Kein Zucker.«
Sie liefen durch einen Flur, der ins Restaurant führte. Gramberg ging zu einem Tisch bei den Panoramafenstern, nahm ein paar Stühle herunter und bot Melinda an, sich zu setzen. Sie wählte die Eckbank mit Blick ins neblige Tal.
»Was für eine Suppe!«
Melinda sah hinaus.
»Verschwindet der auch wieder oder bleibt der für immer?«
Gramberg grinste und schlurfte in die Küche. Melinda hörte ihn Wasser aufsetzen und Kaffeepulver in einen Filter löffeln.
»Stark oder etwas sanfter?«
Melinda entschied sich für stark. Heute Morgen benötigte sie Anschubhilfe. An der Treppe nahm sie eine Bewegung wahr. Janniks verstrubbelter Kopf blickte um die Ecke, doch als der Junge Melinda erblickte, lief er zurück ins Obergeschoss, wo kurz darauf eine Tür krachend ins Schloss fiel. Sie hatte Bullerjahns Verhörprotokolle gelesen. Sowohl Erik als auch Jannik Gramberg hatten sie schon vor Tagen von der Liste der Verdächtigen gestrichen. Erik hatte eine zuverlässige Mitarbeiterin verloren und Jannik war in Stella verliebt gewesen, wenn sie die Andeutungen zwischen den Zeilen richtig verstanden hatte. Janniks Angriff mit dem Kugelschreiber war kein Bagatelldelikt. Tätlichkeiten gegen Polizeibeamte wurden streng geahndet, natürlich, doch Bullerjahn hatte offenbar darauf gedrungen, keinen Wind um die Sache zu machen. Die Akte war sauber geführt, die Berichte detailliert abgefasst. Bullerjahn hatte gute Arbeit geleistet. Und doch gab es zwei, drei Dinge, die Melinda in den Berichten vermisste. Stellas Zimmer oder genauer, das Zimmer der jungen Frau mit dem Bären-Tattoo, die vorgegeben hatte, Stella zu sein, wurde nur am Rande erwähnt. Es gab ein paar Fotos. Dann die Pilze im Korb der jungen Frau. Melinda hatte sich die Namen herausgeschrieben. Steinpilz. Marone. Birkenpilz. Rotkappe. Gallenröhrling. Satanspilz. Hexenröhrling. Sie war gespannt, was Erik Gramberg ihr dazu sagen konnte. Noch immer klimperte er in der Küche herum. Wollte er nicht bloß Kaffee kochen? Melinda nutzte die Zeit, um hinauf ins Obergeschoss zu gehen. Melinda drückte die Klinke herunter. Die Tür zu Stellas Zimmer war unverschlossen. Es war alles beim Alten. Eine Ordnung und eine Sauberkeit, die Melinda beinahe unheimlich vorkam. Plötzlich wurde ihr klar, weshalb das so war. Dieses Zimmer war unbenutzt, hier hatte lange Zeit lang niemand gewohnt.
»Frau Sieben?«
»Hier oben. Komme gleich!«
Sie zog die Tür leise ins Schloss und ging wieder nach unten.
»Hübsche Grafiken haben Sie da an den Wänden!«
Grambergs Gesicht hellte sich ein wenig auf.
»Die sind von meinem Vater. Früher hing das ganze Haus voll. Im Restaurant, hinter dem Tresen, auf den Toiletten, ganz zu schweigen von den Wohnräumen.«
»Er war Sammler?«
»Ein leidenschaftlicher. Alles was gerahmt war und in irgendeinem Bezug zu Osterode oder dem Harz stand, hat er gekauft. Das meiste davon steht im Keller.«
»Schade.«
»Wollen Sie ein paar Bilder mitnehmen? Ich kann Sie Ihnen zeigen.«
Melinda schielte nach dem Tisch, auf dem neben Kaffeekanne und Tassen ein Korb mit Brötchen, Butter, verschiedene Marmeladenschälchen und eine Obstschüssel standen. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen.
»Später vielleicht!«
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Pilzgericht (Krimi)
Misteri / ThrillerDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...