35

83 15 9
                                    

„Mattias, lies bitte vor, was auf dem Zettel steht!"

Bullerjahn faltete das abgegriffene Stück Papier auseinander und versuchte, die darauf notierte Botschaft zu verstehen. Seine Lippen zuckten.

„Lösungen müssen sich nicht in jedem Fall auf diejenigen Probleme beziehen, die sie lösen sollen."

Stille. Nur das rhythmische Klacken der medizinischen Überwachung.
Er schaute in die Runde. Bea nestelte an ihrer Bluse herum, Arndt kratzte sich am Haaransatz. Bullerjahn wischte sich über den Mund, dann: „Diesen Spruch habe ich bis heute nicht kapiert!"

Unendliche Wärme durchströmte Melindas Brustkorb. Auch die Botschaft des Wandersmanns war also echt. Sie hatte sie sich nicht ausgedacht. Doch was hatte Mattias da gesagt? Der Spruch, er hat ihn bis heute nicht kapiert?
Er kannte ihn? Woher?
Bullerjahn bemerkte Melindas Blick. Er war ihr eine Erklärung schuldig.

„Christiansens Vor-Vor-Vorgänger, der alte Ebert, der, von dem der Ölschinken in Arndts Büro stammt, der hatte diesen Spruch über seinen Schreibtisch hängen. Gestickt auf weißes Leinen, gerahmt in goldgestrichenes Holz. Haben wir erst vor ein paar Jahren abgehängt. Scheußliches Ding, wenn du mich fragst!"

Melinda spürte die Kopfschmerzen zurückkehren. Bullerjahn kannte den Spruch des Wandersmanns. Der ehemalige Leiter des Präsidiums hatte ihn so sehr verehrt, dass er ihn sich gerahmt an die Wand gehängt hatte? War dies ein weiteres Teil in Melindas 10.000-Teile-Puzzle ohne Bildmotiv oder war es purer Zufall? Vielleicht war es lohnenswert, sich mit diesem Ebert einmal näher zu beschäftigen und Bea nach dem Verbleib der Stickarbeit zu fragen.
Melinda griff Bullerjahn am Jackenärmel und zog ihn zu sich herunter.

„Und dieser Ebert, hatte er auch Begegnungen mit dem Wandersmann?"

Bullerjahn runzelte die Stirn. Er verstand nicht und richtete sich wieder auf, wobei er einen Schritt von Melindas Bett zurücktrat.

Nachdem Bea und Skagen noch einmal auf die Geschenke verwiesen hatten, Melinda ihnen versicherte, dass ihr im Moment nicht nach Auspacken zumute sei, Arndt ihr den aktuellen Stand der Ermittlungen zu vermitteln suchte und Bullerjahn sich auffällig wortkarg verhielt, verabschiedeten sich die Kollegen mit Küsschen und Umarmungen von ihr, versprachen jedoch, in den kommenden Tagen wieder vorbeizuschauen.
Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, war es Melinda, als hätte auf dem Flur ein Zug auf sie gewartet, ein Zug ohne Wiederkehr. So unkonzentriert, nervös und fahrig hatte sie ihre Kollegen noch nicht erlebt. Melinda spürte, etwas war zuende gegangen, etwas neues würde beginnen.

Am Nachmittag kam Dr. Holm zu ihr, ließ sich auf einen Stuhl fallen und erläuterte ihr mit überschlagenen Beinen den aktuellen Stand der Lage. Melinda verstand weniger als die Hälfte. Was bei ihr hängen blieb waren die Schlagworte Entlassung, Suchtklinik, Therapie, Gefahr eines Rückfalls, weitere Auszeit.

„Sie haben es in der Hand Frau Sieben! Ich kann mir vorstellen, dass sie möglichst bald zurück in den Dienst wollen, doch das wird dauern. Sie haben Glück gehabt, viel Glück. Beim nächsten Mal wird es nicht so glimpflich ablaufen. Tun Sie etwas für sich!"

Mit diesen Worten legte Dr. Holm ihr einen ganzen Stapel Broschüren auf die Bettdecke, lächelte sanft und verließ das Zimmer. Melinda schob die Prospekte auseinander. Fachklinik Erlengrund, Fachkrankenhaus Hansenbarg, Reha-Klinik Pyramide, Fachklinik Holte-Lastrup. Wunderschöne Aufnahmen von Wiesen, Wäldern, gut gelauntem Pflegepersonal, glücklichen Patienten. Das Paradies in Hochglanz. Die Botschaft: werde vernünftig, werde normal, lass die Flausen bleiben.
Melinda ergriff den Stapel und schleuderte ihn mit aller Kraft in Richtung Mülleimer. Eine Broschüre traf und schmiss den Eimer um, eine andere landete auf dem Geschenktisch, knapp neben der Blumenvase, die anderen rutschten über den Boden und blieben zerfleddert vor der Zimmertür liegen.

Am Nachmittag zog Gerda ihr die Infusion und Melinda bekam zum ersten Mal wieder ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee. Die im Zimmer verstreuten Broschüren hob Gerda kommentarlos auf und legte sie auf den Nachttisch.

„Sie wollen uns schon wieder verlassen?"

Melinda leerte ihre Tasse und bat Gerda um weiteren Kaffee.

„Am Sonntag wie's aussieht. Wird ja auch Zeit, bin ja gar nicht krank!"

Die beiden Frauen lachten. Dann ging Gerda hinaus, um Melindas Tasse aufzufüllen.

Nach einem doppelten Klopfen an der Tür, schob sich kurz vor dem Abendessen ein kleiner, untersetzter Mann mit runder Brille und Kinnbart in ihr Zimmer. Dr. Holm begleitete ihn und stellte den Besucher vor.
Wenn Melinda sich ein Bild von Dr. Rose gemacht hatte, dann musste sie nun feststellen, dass sie vollkommen daneben gelegen hatte. Dr. Rose trug ein schlabberiges AC/DC-Shirt, Jeans und liebte offenbar auffälligen Schmuck. An der rechten Hand trug er zwei mit blauen, an der linken Hand zwei mit roten Steinen besetzte Goldringe. Dr. Rose tauschte einen raschen Blick mit Dr. Holm. Kurz darauf verließ dieser eilig das Zimmer.

Eigentlich konnte er sich seine Reden sparen, Melinda ahnte bereits zu Beginn, worauf er hinauswollte. Trotzdem hörte sie geduldig zu, ließ Dr. Roses Ausführungen stoisch über sich ergehen.
Nach einer ausführlichen Darstellung ihres Gesundheitszustandes, zum größten Teil Wiederholungen Dr. Holms, Rückblicke auf das Trauma der Entführung, die vergangenen Wochen im Präsidium, die Informationen kamen von Christiansen, und Melindas Umgang mit den verschriebenen Medikamenten, kam Dr. Rose zum Kern seines Anliegens.

„Frau Sieben, in Ihrem jetzigen Zustand ist es ausgeschlossen, dass Sie in den Polizeidienst zurückkehren. Es tut mir Leid!"

Nun war es raus. Nun hatte sie es hochoffiziell, mit Brief und Siegel. Probezeit versemmelt. Arndt drin, sie draußen. Melinda wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Dr. Rose sah sich im Zimmer um, als suche er nach den Broschüren. Als er sie auf dem Nachttisch fand, wendete er sich wieder Melinda zu. Das war er, der offizielle Teil. Melinda sah es an Dr. Roses entspanntem Gesichtsausdruck, sie hörte es an seiner Stimme. Sie klang nun tiefer, beinahe väterlich.
Ein alter Mann saß vor ihr, darüber konnte das jugendliche Outfit nicht hinwegtäuschen. Ein Mann, der vieles erlebt, vieles gesehen hatte. Er war der Überbringer der Hiobsbotschaft, doch da war noch etwas anderes. Dr. Rose nahm die Brille ab und wischte sich ein Staubkorn aus dem Augenwinkel. Dann setzte er die Brille wieder auf.

„Wenn ich Ihnen einen persönlichen Rat geben darf, Frau Sieben, lassen Sie sich helfen."

Wieder der Blick zu den Hochglanzbroschüren.

„Vor allem aber, bleiben Sie mit Ihren Vertrauten im Präsidium in Kontakt, nicht offiziell natürlich. Mit Ihren besonderen Fähigkeiten sind Sie eine unentbehrliche Hilfe, nicht nur was den Fall Stella Blume angeht, sondern weit darüber hinaus. Bleiben Sie dem Wandersmann auf den Fersen, er könnte ein Schlüssel sein. Fragen Sie Bullerjahn nach Eberts Archiv. Diese Stadt, Melinda Sieben, braucht Sie. Schaffen Sie, was uns nicht gelungen ist, befreien Sie diesen Ort aus seinem Dornröschenschlaf!"

Das war mal eine Ansage. Melinda sah auf ihre Decke. Kaffeeflecken. Die Tasse lag umgekippt in ihrem Schoß. Vor dem Fenster war es inzwischen dunkel geworden, Windböen drückten gegen die Scheibe, als wollten sie herein, um Melinda eine wichtige Botschaft zu überbringen. Sie sah auf Dr. Roses übereinandergelegte Hände, sah gebräunte Haut, Altersflecken, hervortretende Adern.

„Woher wissen Sie von alldem?"

Dr. Rose räusperte sich.

„Seit mehr als fünf Jahrzehnten schreibe ich Gutachten fürs Polizeipräsidium Osterode. Mal ist mein medizinischer, mal mein psychologischer Rat gefragt, manchmal auch beides. Dabei geht es nicht immer um Kolleginnen und Kollegen, ihre Eignung oder Nichteignung, sondern auch um Täterinnen und Täter, ihre Motive, Einstellungen und Beweggründe. Manchmal kann ich mit meiner Expertise weiterhelfen, immer häufiger jedoch nicht, und zwar immer dann, wenn uns der Wandersmann und diese merkwürdige Hütte oben in den Wäldern dazwischen kommt."

Melinda hielt die Luft an. Dr. Rose fixierte sie über seine Brille hinweg.

„Sie kennen diese Hütte sehr gut, nicht wahr!"

„Ich kenne sie, ja."

„Und daher, Melinda Sieben, sind Sie genau die richtige für den Job!"

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt