10

181 28 14
                                    

Melinda beugte sich zu Bullerjahn hinüber. Ihr Gesichtsausdruck verriet Ärger.

„Sie haben versprochen uns ein für alle Mal mit dieser Freisler-Sache in Ruhe zu lassen! Erinnern Sie sich?" Sie biss die Zähne aufeinander bis sie knirschten.

Bullerjahn schien es egal zu sein. Er spielte mit einem zerbrochenen Zahnstocher herum und deutete nach draußen.

„Ich muss raus und mit den Kollegen sprechen!"

Okay, dachte Melinda. Ich setze mich jetzt auf mein Rad, fahre zurück zur Wohnung, packe meine Sachen und ade Osterode, ade wundervoller Schrebergarten, auf dass wir uns nie wiedersehen! Arndt hielt sich den Magen. Ihm war speiübel und er musste zum Klo. Melinda war aufgestanden, doch Bullerjahn hielt sie sanft an der Schulter zurück.

„Der Kollege findet den Weg schon! Kommen sie mit raus!"

„Mensch, Bullerjahn, öffnen sie die Augen. Arndt hat noch lange nicht abgeschlossen mit dem ganzen Mist. Der ist hinüber! Gucken sie mich an! Mache ich einen stabilen Eindruck auf sie? Was glauben sie, wozu man uns in dieses Sanatorium geschickt hat? Zum Muschelsammeln oder zum Fischbrötchen essen?"

Ihr Herz pumpte wie wahnsinnig, sie spürte ihren angeschwollenen Hals. Ich kann das. Ich schaffe das. Ich bin so viel stärker als das, so viel stärker als das. Keins der gelernten Beruhigungsmantras half ihr jetzt. Sie war einfach nur sauer. Nein, sie wollte sauer sein!

Bullerjahns Gesicht wirkte zerknautscht. Melinda sah ihm an, dass er begriff. Der Zustand seiner Kollegen ließ ihn nicht kalt, und Melinda wollte nicht unfair zu ihm sein. Natürlich war Bullerjahn kein Unmensch. Er hatte einen guten Kern. Doch auch auf seinem Kern lag ein Schatten, und mit Schatten kannte Melinda sich aus.

Sie hatte alles gesagt was nötig schien. Sie drehte sich zum Fenster und sah hinaus. Bullerjahn räusperte sich.

„Arndt hat erstaunliche Fähigkeiten, Melinda."

Bullerjahns Stimme hatte einen vertraulichen Ton angenommen.

„Genau wie sie, Melinda. Ich weiß zwar nicht wie sie es machen, aber ..."

Melinda hob die Hand und Bullerjahn verstummte. Lobhudelei war das Letzte was sie jetzt gebrauchen konnte. Sie wollte nur noch raus hier. Wieder sah sie auf die zuckenden Lichter. Was war das da draußen? Ihr nächster Fall? Bitte nicht. Sie war noch nicht so weit.

„Christiansen wird morgen Früh wieder im Präsidium sein. Sie wird ihnen ein Angebot machen, und ich möchte, das sie es annehmen!"

Melinda seufzte.

„Das mit dem Jungen tut mir Leid, Mattias. Wirklich! Aber wir können ihnen da nicht helfen!"

Bullerjahns Augen weiteten sich.

„Aber ich habe doch gar nicht ... Ich wollte doch nicht ..."

„Eine Melinda Sieben weiß so was."

„Hören sie die Gedanken so wie, ich meine, wie ich jetzt hier ihre Stimme höre? Wie habe ich mir das vorzustellen?"

Sie zuckte mit den Schultern.

„Es kommt und geht wie und wann es will. Neugier befriedigt?" Jetzt war sie doch unfair geworden. Egal.

„Faszinierend!"

Bullerjahns Blick war der eines Groupies. Melinda verdrehte die Augen.

Gemeinsam gingen sie zur Garderobe. Bullerjahn zog sich die Jacke über. Dabei beobachtete er Melinda wie sie eine violette und eine orangefarbene Haarklemme tauschte. Im Gegensatz zu ihm wusste sie genau weshalb sie das tat. Die Farbe Orange stand für Lebensfreude, die Farbe Violett für das Unbekannte. Die orangefarbene Klemme kam ganz nach hinten, die violette ganz nach vorn, über die Stirn, in die Nähe des Gesichts wo sich ihre Augen, die Nase und der Mund befanden, drei Sinne, die heute Nacht gefragt sein würden und ein wenig magische Unterstützung gebrauchen konnten.

„Arndt und ich, wir sind zwei völlig kaputte Gestalten. Ich glaube nicht, dass sie sich im Klaren darüber sind was es bedeutet, sich mit uns abzugeben!"

Bullerjahn starrte sie an als hätte er sie noch nie zuvor gesehen, als wäre sie gerade vor ihm aus dem Boden gewachsen.

„Doch, das glaube ich schon, und wir sollten es wenigstens versuchen!"

Der Kerl war unverbesserlich. Vielleicht hatte er recht. Einen Versuch konnte es wert sein. Er zog sich den Mantel zu und verließ das Restaurant.

Melinda ging zum Männerklo und hämmerte mit der Faust gegen die Tür.

„Arndt, ich gehe schon mal raus!"

Melinda stand in der Mitte des zugigen Parkplatzes und blickte hinauf in den nächtlichen Himmel. Zehn Schritte von ihr entfernt begann der Wald. Wie still es hier war. Nur das leise Gespräch der Kollegen bei den Dienstfahrzeugen. Zwei Kollegen von der Streife, Bullerjahn und ein weiterer Mann. Er trug hohe Gummistiefel, Hemd und Steppweste. Über der Schulter hing ihm ein Rucksack, neben ihm saß ein schlanker Jagdhund.

Wie dunkel und bedrohlich eine Ansammlung von Bäumen bei Nacht sein konnte. Da vorn war der Forstweg. Keine fünfzehn Meter konnte sie ihm mit den Augen folgen, dann verlor er sich in der Finsternis. Sie fragte sich was man ihr geben müsste damit sie sich ohne Taschenlampe, mutterseelenallein dort hinein wagen würde? Weshalb ging sie nicht zu den Kollegen hinüber, stellte sich vor, guten Abend, Kriminalkommissarin Sieben, mein Kollege Holler ist gleich hier?

Hinter ihr knirschte der Kies. Sie drehte sich um und sah Arndts vertraute Gestalt durch den schmiedeeisernen Torbogen kommen.

Arndt sah nicht gesund aus. Sein wächsernes Gesicht leuchtete in der Dunkelheit, und für einen kurzen Moment war sich Melinda nicht mehr sicher, ob es sich wirklich um Arndt und nicht doch um eine Geistererscheinung handelte. Spontan verspürte sie den Wunsch, ihm von ihrer Idee zu erzählen, noch heute Abend alles hin zu schmeißen., das Leben noch einmal ganz von vorne zu beginnen. An einem anderen Ort mit einem anderen Beruf. Arndts glasiger Blick hielt sie davon ab. Sie wollte ihn in diesem Zustand nicht mit ihren Spinnereien behelligen. Außerdem hatte sie den Eindruck, dass Arndt sich hier ganz wohl fühlte. Ihre Pläne waren nicht automatisch auch seine Pläne.

Er hob den Kopf und sah sie aus müden Augen an. Seine Stimme klang gedämpft, als säße sein Mund nicht mehr in seinem Gesicht, sondern am Bauch, verdeckt von T-Shirt, Pullover und Jacke.

„Ein Hexenhaus. Das ist ein verdammtes Hexenhaus! Wie in Beas Buch, Melinda. Wie in Beas Buch. Ein Hexenhaus!"

Er griff in die Jackentasche, zog den Roman heraus und fuchtelte damit in der Luft herum. Melinda überflog den Titel. Mord im Waldhotel. Interessant. Und sie hatte gedacht Bea konnte nur Kuss, Kuss, Schmatz, Schmatz und schwulstige Trennungsreigen.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt