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Eine weitere Stunde lang stolperte sie durch die klirrend kalte Stadt. Von der Marktkirche St. Aegidien über den Marktplatz durch die Rinne-Passage zur Pizzeria in der Eisensteinstraße, wo noch immer ihr Wagen stand, zugefroren, von feinem Schnee überpudert, der linke Vorderreifen zu weit auf der Fahrbahn. Blöderweise hatte sie den Autoschlüssel nicht dabei, doch kam es für den Wagen auf eine Nacht mehr oder weniger nicht an. Wenn er heute noch hier stand, dann würde er bis morgen nicht abgeschleppt werden.
Automatisch, wie ferngesteuert setzte Melinda einen Fuß vor den anderen. In Bewegung bleiben, das war jetzt das Wichtigste. Für all die wirren Gedanken, die ihr durch den Kopf schwirrten und die sie im Takt ihrer Schritte zu entwirren versuchte, hätte sie drei Gehirne gebraucht.
Was hatte sie davon abgehalten, sich von Jan Dressler an der Klinik abholen zu lassen? Weshalb hatte sie ihn angelogen? Ihre Beziehung stand noch ganz am Anfang und dann das! Was hatte ihr Dr. Rose mit seinen nebulösen Andeutungen sagen wollen? Christiansens Vorgänger, der alte Ebert hatte ein geheimes Archiv angelegt? Wo sollte sie danach suchen und was befand sich darin? Wer oder was war der Wandersmann? Weshalb folgte er ihr? Was wollte er von Melinda? Sein Schemen hatte dort oben in der Kastanie gehockt und von der Hütte im Wald gesprochen, Freislers Hütte. Melinda erinnerte sich an vieles, was sie damals im Wald gesehen und gehört hatte, was sie gemeinsam mit Arndt hatte erdulden müssen, doch dass sie dem Wandersmann an diesem schaurigen Ort begegnet sein sollte, das war ihr neu.

Ob sie wollte oder nicht, die Schemen im Nebel krochen ihr auf die Pelle, unbekanntes drang auf sie ein, zitternde Schatten flüsterten ihr rätselhafte Botschaften zu. Auch deshalb hatte sie den Entschluss gefasst, auf Abstand zu gehen, zum Präsidium, ihren Kollegen, ihrem gesamten bisherigen Leben. Morgen Früh würde sie Elke Schrader im Garten treffen, den Kaufvertrag unterzeichnen und ein neues Leben beginnen. Womit sie in Zukunft ihre Brötchen verdiente, das würde ihr schon noch einfallen. Zippo blieb in jedem Fall bei ihr.

Es war kurz vor fünf, über den bewaldeten Berghängen färbte sich der Himmel bereits graublau, als Melinda in die Wohnung zurückkehrte. In der Küche fand sie Arndt am Tisch sitzen, eingehüllt in einen blauweiß gestreiften Bademantel, die Hände um einen dampfenden Pott Kaffee gelegt. Stumm beobachtete er ihre Handgriffe. Melinda setzte Wasser auf und hängte einen Teebeutel in die Tasse mit dem Weihnachtsmotiv. Sie brauchte etwas Warmes im Magen. Zippo verkroch sich mit einem erschöpften Seufzer in sein Körbchen hinterm Sofa.

Arndt, was genau stellte er für sie da? War er Gegner oder Partner, Freund oder Feind? Sie wusste es nicht. Wahrscheinlich war er von allem etwas. Sie nahm ihre Tasse und setzte sich zu ihm an den Tisch. Ihr Kollege wirkte kräftiger als noch vor Wochen, die eingefallenen Wangen waren verschwunden, das Haar saß wohlgeordnet am Kopf, trotz der frühen Stunde. Hier saß ihr jemand gegenüber, der es offenbar geschafft, der sein Trauma überwunden hatte und wieder er selbst geworden war. Etwas in ihr schrie, das will ich auch, eine andere Stimme warnte sie, Veränderung ist gut und wichtig, Stillstand ist der Tod. Sie fühlte, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand, dem Weg der Wandlung, dem Weg des Übergangs von der einen in die andere Welt, welche andere Welt auch immer, eine hellere, eine buntere, eine freiere, vielleicht auch eine jenseitigere Welt.

Arndt griff nach dem Faden ihres Teebeutels, zog ihn aus der Tasse und warf ihn ins Spülbecken. Für einen Moment hielt Melinda die Luft an, doch für einen lauten Protest fehlte ihr die Kraft. Seine unerwartete Stimme ließ sie zusammenzucken.

»Weshalb bist du abgehauen?«
Arndt sah sie nicht an, starrte bloß in seinen Kaffee.
»Warum hast du nicht angerufen? Auf wen hast du da oben gewartet?«
Jetzt schaute er auf.

Drei Fragen auf einmal. Melinda verspürte wenig Lust, auch nur eine von ihnen zu beantworten. Doch was hatte Arndt ihr getan, dass sie so bockig reagierte? Sie nippte an ihrem Tee, der zum Trinken noch viel zu heiß war. Arndt war zurzeit ihr einziger Verbündeter, ihn kannte sie von allen Menschen in diesem Nest am längsten.

»Die Fotos, Arndt, die Fotos die ich dir in der Klinik gezeigt habe. Du hast doch auch gesehen, was ich gesehen habe! Den Schatten an der Hauswand, die spinnenartigen Beine und Arme, das hast du doch auch gesehen!«

Melinda blickte Arndt fest in die Augen, wartete auf eine Reaktion, einen Funken der Übereinkunft in seinem Blick. Arndt spielte am Henkel seiner Tasse herum, wischte ihn sauber, wo nichts sauber zu wischen war. Seine Worte trafen sie wie ein Keulenschlag.
»Ich wollte dich vor den anderen nicht bloßstellen.«

»Wie bitte?«
Melinda stieß sich vom Tisch ab. Ihr Gesicht glühte, der Puls hämmerte ihr in den Ohren.
»Was sagst du da? Willst du mich verarschen?«
Mit fahrigen Bewegungen rückte sie ihren Stuhl zu ihm herüber und blickte ihm aus nächster Distanz ins Gesicht. Arndt rückte von ihr ab.

»Melinda, was willst du von mir? Dass ich mich deinen Spinnereien anschließe? Du siehst Dinge, die es nicht gibt. Du hörst Stimmen, die nur in deinem Kopf existieren. Ich mag dich, wirklich, und ich halte dich für eine der besten Ermittlerinnen, doch deine Drogengeschichten bringen dich irgendwann noch mal um!«

Arndt trank seinen Kaffee in einem Schluck aus und knallte den Becher zurück auf den Tisch. Seine Augen glänzten feucht. Waren das Tränen der Wut oder Tränen der Betroffenheit? Melinda ballte die Fäuste und begann Arndt auf die Schulter zu boxen, zögerlich zunächst, dann, als er keine Anstalten machte, sich zu wehren, zunehmend heftiger. Woher nahm sie plötzlich diese Kraft? Irgendwann griff Arndt nach ihren Handgelenken und hielt sie fest, wofür Melinda ihm auf eine merkwürdige Art dankbar war. Sie trat ihm noch einmal gegen das Bein, bevor sie sich von ihm losmachte, hinüber ins Wohnzimmer wankte und sich auf das breite Sofa fallen ließ. Arndt setzte sich ihr gegenüber auf die Armlehne des Sessels und zog den Bademantel vor der Brust zusammen. Melindas Augen waren bloß noch messerscharfe Sehschlitze.

»Arndt Holler, du bist ein verdammter Arsch, weißt du das! Ein richtiger Karrierearsch!«

Er konnte nicht glauben, dass er mit dieser zugedröhnten Frau, die vor ihm auf dem Sofa lungerte, so viele Jahre ein erfolgreiches Team gebildet hatte. Noch vor zwei Wochen hatten sie gemeinsam diesem Brandstifter Sebastian Winkler das Handwerk gelegt, sicher, dass sie ihre Gefangenschaft, ihr verdammtes Trauma gemeinsam überwinden würden, alles wieder gut werden würde, ihnen eine gemeinsame berufliche Zukunft in Osterode bevorstand. Er hätte schon damals merken müssen, was mit Melinda nicht stimmte. Ihre abrupten Stimmungsschwankungen, an einem Tag himmelhochjauchzend, am nächsten tief betrübt, ihre Phasen der Genialität, die sich vollkommen willkürlich mit Phasen absoluter Stumpfheit und Apathie abwechselten. Melinda schluckte nicht bloß die ihr verschriebenen Psychopharmaka, sondern konsumierte so gut wie alles, was sich schnupfen, kauen, rauchen ließ. Es war kein Wunder, dass sie Stimmen hörte, dass sie halluzinierte. Arndt machte es fassungslos, dass sie selbst mit einem Bein im Grab nicht von ihren Gewohnheiten abließ. Und dieser Frau sollte er eine Waffe besorgen? Damit sie im Delirium unkontrolliert herumballerte oder sich selbst damit erschoss?

Melinda war zur Seite gesackt, sie sah sehr müde aus. Arndt ging in sein Zimmer und holte eine Decke, die er auseinanderfaltete und Melinda damit zudeckte. Helle Staubkörner tanzten durch das Morgenlicht. Melinda schlief.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt