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Sie spürte seinen Blick in ihrem Nacken, wusste, dass Jan zurückgekommen war und sie durch die Türluke beobachtete. Er rief sie nicht zurück, als sie sich an der schmalen Tür im hinteren Teil des Raumes aufrichtete und den kleinen Schlüssel, den sie in der Sofaritze gefunden hatte, ins Schloss schob. Er schritt nicht ein als sie den Schlüssel drehte, die Klinke herunterdrückte und die Tür aufzog. Melinda wusste nicht, was sie erwartet, nur was sie gehofft hatte. Einen Fluchtweg in die Freiheit. Stattdessen blickte sie in eine Besenkammer, die bis zur Decke mit Kartons, alten Teppichen, Eimern und Haushaltsartikeln in Holzregalen vollgestopft war. Ganz vorn, gleich hinter der Türschwelle stand ein Koffer. Diverse Papierbanderolen zeugten von Reisen in ferne Länder. USA, Südafrika, Brasilien, Peru, Japan, Bali. Ein auffälliges Monogramm zierte die Außenhaut des Koffers. I. B. Melinda ahnte, wofür es stand. Iris Brandt. Jan wollte, dass sie diesen Koffer fand. Er wollte, dass sie begriff, zu was er imstande war. Eine eiskalte Drohung. Jan hatte Iris also nicht bloß den alten Pilzkorb seiner Mutter geschenkt. Er hatte ihr auch seine Kellerwohnung zur Verfügung gestellt. War Iris freiwillig hierher gezogen? Hatte er sie gezwungen? Das war unwahrscheinlich. Iris war jeden Tag zur Arbeit in Grambergs Gasthaus erschienen. Hätte Jan sie gefangen gehalten, wäre sie abends nicht freiwillig zu ihm zurückgekehrt. Gramberg wiederum musste gewusst haben, wohin Iris nach Arbeitsende ging. Jan und er waren Nachbarn. Sie kannten sich gut, trafen sich zudem jede Woche zum Skatspielen im Schankraum. Die Stella-Geschichte in Melindas Kopf blähte sich auf, färbte sich dunkler, wucherte in alle Richtungen und begann, die Züge eines Schauermärchens anzunehmen. Oh Gramberg, bärtiger alter Mann. Was hast du gewusst? Was hast du getan?
Melinda zog den Koffer aus der Kammer, ließ ihn vor dem Sofa auf den Boden fallen und zog den Reißverschluss auf. Frauenkleidung. Jeanshosen, Blusen, Unterwäsche, Socken, Pullover, ein Mantel. Darunter Reisebroschüren, Postkarten, Andenken. Ein flacher Stein mit Inka-Mustern. Eine Schneekugel mit Südseemotiv. Made in China. Melinda griff in die Seitentaschen und zog einen Führerschein, einen Personalausweis, einen Reisepass und verschiedene Plastik- und Rabattkarten heraus. Sie alle trugen denselben Namen. Stella Blume. Melinda spürte, wie sich ein Kreis schloss, wie die Dinge ineinandergriffen, sich vervollständigten, ein schlüssiges Ganzes ergaben. Iris und Jan waren ein Paar gewesen. Das hatte er bei der Befragung in seiner Küche verschwiegen. Doch war er nicht der Einzige. Auch Gramberg hatte es verschwiegen, genau wie Jannik. Wer wusste noch davon?
Die Luke in der Tür schloss sich mit einem Klappern. Jan hatte offenbar genug gesehen. Melinda kroch zurück aufs Sofa. Ihr war noch immer schwindelig. Sie brauchte Ruhe. Musste nachdenken, auch wenn ihr schmerzender Kopf es ihr beinahe unmöglich machte. Sie dachte an ihre Beretta unter dem Waschtisch. Hoffte, dass Jan sie nicht gefunden und mitgenommen hatte. Was war mit Zippo? Melinda hoffte, dass es ihm gutging, er sich im Garten irgendwie über Wasser hielt. Wo war ihr Handy? Dumme Frage. Natürlich hatte Jan es ihr abgenommen. Sie schloss die Augen und versuchte, sich auf etwas Schönes zu konzentrieren. Ein See in Südschweden. Rotes Holzhaus. Ein Steg, der ins Wasser führt. Ein schwankendes Ruderboot. Franky und sie auf der Wiese vor dem Haus. Die Sonne scheint. Sie haben lange geschlafen, genießen ein spätes Frühstück. Lange war es her. Melinda dachte an ihren Vater, der als Schamane gekleidet durch die Wälder des Harzes streift. Wie er Kräuter sammelt, Beeren pflückt, Pilze auf ihre Essbarkeit überprüft. Weshalb hat er sich nie bei ihr gemeldet? Ihr nie einen Brief oder eine Karte geschrieben, niemals angerufen? Ein Polizist, Hermann Ebert, hat ihn erschossen, versehentlich, tragisch und ihn in der Heidenhöhle versteckt. Vater! Beinahe hätte Melinda laut nach ihm gerufen. Wandersmann! Ich habe dir Unrecht getan. Du hast mich nicht vergessen! Du bist die ganze Zeit über bei mir gewesen und ich habe es nicht bemerkt! Wann hast du mich gefunden, wann bist du zu mir gelangt? Als ich mit Arndt in Freislers Folterkeller um mein Leben rang? Als wir Wurzeln und Würmer aßen, uns in feuchter Walderde suhlten und uns in mit blanken Fingern gegrabenen Lehmlöchern erleichterten? Weshalb, Vater, habe ich so lange gebraucht, dich zu erkennen? Melinda spürte, wie sich etwas von ihrem Rücken löste und zu Boden glitt. Ein Fluidum, ein flüssiger Schatten aus Nichts. Sie sah wie er eine menschliche Gestalt annahm, immer noch flach, einem Wasserfleck ähnlich. Wie Arme und Beine sich ausstülpten, ein Kopf hervorspross, darauf ein riesiges Geweih zu wuchern begann. All dies in unablässiger Bewegung, mit müden Augen kaum zu erfassen. Doch Melinda wusste, es würde gut werden. Alles war richtig, so wie es war. Übermächtig, geheimnisvoll, unerklärlich und doch voller Güte. Niemals in ihrem Leben hatte sie ein so großes Vertrauen verspürt. Die Erscheinung mäanderte zum Fenster, kroch an der Wand hinauf und verschwand hinaus ins Freie. In Melindas Brustkorb breitete sich ein Schmetterlingsschwarm aus. Beinahe tat Jan ihr Leid. Er wusste nicht, mit wem er sich angelegt hatte.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt