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In Melindas Manteltasche wartete die Zugangskarte auf ihren zweiten Einsatz, doch Eberts Archiv musste sich noch einmal gedulden. Bea hatte von einem grünen Geländewagen gesprochen und das Äußere des angeblichen Technikers beschrieben. Mittelgroß, kräftige Statur, schmales Gesicht, behaarte Handrücken, melodiöse Stimme mit einem Hang zur Weinerlichkeit. Melinda war sofort klar gewesen, wer sich da ins Präsidium geschlichen hatte. Zu was in aller Welt war dieser Kerl denn noch fähig? Was kam als nächstes? Es war höchste Zeit, Jan Dressler einen Besuch abzustatten und ein paar grundsätzliche Dinge mit ihm zu klären. Vorher nahm sie Bea das Versprechen ab, niemandem in der Abteilung davon zu erzählen. Bea schwor ewige Verschwiegenheit.
Der Schnee fiel so dicht, dass Melinda kaum ihren Lenker sah als sie zurück zum Garten radelte. Dort angekommen holte sie die Beretta aus dem Spülschrank, warf sich eine Wolldecke über die Schulter und griff nach der Knäckebrotpackung. Schließlich konnte man nicht wissen, wie der Abend sich entwickelte. Sie verschloss die Hütte und stapfte hinauf zu ihrem Wagen. Zippo nahm sie dieses Mal mit. Ihr Bauch riet ihr, jemanden in Begleitung zu haben, der über einen festen Biss verfügte.

Es war kurz vor 18 Uhr als Melinda den Wagen gut verborgen am Rand der Forststraße parkte, etwa hundert Schritte von Jans Haus entfernt. Wenn er zu Hause war, würde er ihr Kommen nicht bemerken. Gut so. Es sollte eine Überraschung werden. Sie steckte die Waffe in den hinteren Hosenbund, leinte Zippo an und steckte sich eine Knäckebrotscheibe zwischen die Zähne. Ihr Magen knurrte. Sie hatte eine gefühlte Ewigkeit nichts gegessen. Die Straße war mit einer hohen Schneeschicht bedeckt. Es war Melinda ein Rätsel, wie es in kurzer Zeit erneut so kalt hatte werden können. Hatte es nicht erst vor ein paar Tagen getaut? Verrückte Gegend! Sie blieb stehen. Da waren keine Reifenabdrücke, die zum Forsthaus hin oder von dort wegführten. Jan war nach seiner überhasteten Flucht aus dem Präsidium also nicht nach Hause gefahren. Was sie verstehen konnte. Er musste damit rechnen, dass jemand sein Autokennzeichen gesehen hatte. Wohin konnte er stattdessen gefahren sein? Würde er sich später, irgendwann nachts hertrauen? Melinda zog sich die Kapuze über den Kopf und biss vom Knäckebrot ab. Sie verspürte Durst und bereute, nichts zu trinken mitgenommen zu haben. Sie griff in den frisch gefallenen Schnee und schob sich eine handvoll in den Mund. Nicht ihre erste Wahl aber besser als nichts.
Das Tor war verschlossen, doch war es niedrig genug, um hinüberzusteigen. Zippo reichte ein beherzter Sprung. Melinda ließ den Blick über den Schnee wandern. Das Bild eines ausgebreiteten weißen Lakens tauchte in ihrem Kopf auf. Glatt. Makellos. Nicht eine Fußspur, weder in der Einfahrt, noch auf der Eingangstreppe. Auch nicht neben dem Haus oder im Garten. Nur ihre eigenen Spuren zeichneten sich deutlich in der frischen Schneedecke ab. Die vom Himmel tanzenden Kristalle würden sie in wenigen Sekunden für immer zudecken. Melinda nahm die Leine kürzer und betrat den Garten seitlich des Hauses. Hier führte eine schmale Steintreppe hinab zu einer Kellertür. Melinda drückte die Klinke herunter. Verschlossen. Sie sah Jans Hackklotz, in dem noch immer die Axt steckte. Jene Axt, die er in der Hand gehalten hatte, als sie ihn für die Befragung besucht und ihm beim Abschied ihre Handynummer auf den Handrücken geschrieben hatte. Es kam ihr vor, als wäre das alles nicht erst vor wenigen Wochen, sondern vor hundert Jahren passiert. Der erste Eindruck zählt, so sagte man. Und Melinda hatte sich tatsächlich von Jans Auftritt beeindrucken lassen. Für kurze Zeit hatte sie sogar Schmetterlinge im Bauch gespürt. Der zweite und dritte Eindruck war indessen nur noch ein Schatten des ersten gewesen. Die vielen Nachrichten mit all den Grinsepilzen und Zwinkertannen, sein Angebot, sie vom Krankenhaus abzuholen, das alles war schon zu viel für sie gewesen, ohne dass sie sagen konnte weshalb. Das Treffen im Gartenhaus war ein letzter Versuch gewesen, ein verzweifelter Kampf gegen die Einsamkeit. Weshalb hatte sie bei Jan ihr Instinkt verlassen? Ihr Instinkt, der sie einmal zu einer der erfolgreichsten Ermittlerin Norddeutschlands hatte werden lassen? Sie hatte zugelassen, dass er sich an sie heranwanzte, ihr Ermitlungsergebnisse aus den Rippen leierte und ihr Notizbuch stahl. Die Scheißgeschichte mit dieser Entführung war Schuld. Die Tage in Gefangenschaft hatten sie kaputter gemacht, als sie sich eingestehen wollte. Freisler hatte ein Wrack aus ihr gemacht. Obwohl er längst unter der Erde lag, griffen seine moderigen Finger noch immer nach ihr.
Melinda betrachtete die Mauer aus gehacktem Holz, welche sich neben ihr erhob und versuchte zu berechnen, wie lange jemand leben musste, um all diese Scheite verbrennen zu können. Sie war so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie um ein Haar die beiden Gestalten übersehen hätte, die am hinteren Ende des Gartens über die Mauer kletterten. Zippo knurrte leise. Melinda hielt ihm sanft die Schnauze zu.
»Pst, Zippo. Schön leise!«
Sie zog ihn rasch hinter eine Buschreihe. Die unerwarteten Besucher waren von der Mauer gesprungen und sahen sich um. Melinda erkannte, dass sie in etwa gleich groß waren und sich geschmeidig wie Katzen bewegten. Jugendliche. Einer von ihnen trug einen Rucksack, der andere eine Fototasche. Sie schlichen an der Mauer entlang in Richtung Haus. Ein Wimpernschlag später waren sie im Schneegestöber verschwunden. Melinda fluchte leise. Sie begann zu frieren und konnte unmöglich hier im Schnee hocken bleiben. Sollte sie aufgeben, den Garten über die Mauer verlassen und sich zurück zum Auto stehlen? Nein, das kam nicht in Frage. Nicht so lange sie nicht wusste, wer dort um Jans Haus schlich. Sie richtete sich auf und zog Zippo ein Stück weiter um die Büsche zu einer überdachten Stelle, wo ein kleiner Tisch und mehrere Holzklötze standen, die offenbar als Sitzgelegenheit dienten. Unter dem schrägen Holzdach hingen bunte Plastiklampions an einer verdrehten Kabelschnur. Hier also feierte Jan seine Partys. Die Vorstellung eines ausgelassen feiernden Jan Dresslers erschien ihr absurd. Hatte er überhaupt Freunde? Das Geräusch eines Motors riss sie aus ihren Gedanken. War das Jans Geländewagen? Sie hörte Männerstimmen. Autotüren wurden zugeschlagen. Das war nicht Jan. Sie setzte sich auf einen der Holzklötze, zog die Beretta aus dem Hosenbund und legte sie vor sich auf den Tisch. Was auch immer dort im weißen Nichts vor sich ging, sie war gerüstet. Sie hörte wie jemand massiv gegen die Eingangstür schlug, wobei die Hiebe jedes Mal aggressiver klangen. Eine raue Männerstimme hob zu einer Schimpftirade an. Das meiste davon verschluckte der herumwirbelnde Schnee, doch ein paar Worte erreichten Melindas Ohr.
»Dressler, du Drecksack! Komm raus! Der General verlangt sein Geld!«
Jemand zog Schnodder durch die Nase und spuckte aus.
Wenn sie zunächst gehofft hatte, dass Jan doch nach Hause gekommen war und ein paar friedliche Leute, Holzarbeiter oder Geschäftspartner, traf, dann war sie inzwischen fest davon überzeugt, dass sich dort vorn am Haus eine mittlere Katastrophe anbahnte. Während sie mit klammen Fingern nach der Beretta griff, versuchte sie sich zu erinnern, ob sie schon jemals mit einer solchen Waffe geschossen hatte und ob die wenigen Youtube-Videos, die sie sich angesehen hatte, ausreichten, sie richtig zu bedienen. Sie hielt Zippo den Griff der Waffe unter die Nase und ließ ihn daran schnuppern. Sein ermutigender Blick beruhigte sie.

Mit der Beretta im Anschlag schlich sie sich zwischen Büschen und Bäumen in Richtung Haus. Dieses Grundstück glich einem Urwald, doch insgeheim freute sie sich über Jans zugewucherten und unaufgeräumten Garten, bot er ihr doch die bestmögliche Deckung. Noch einmal schlug jemand gegen die Haustür und Melinda meinte schon das Splittern von Holz und das Bersten von Glas zu hören, als vor ihr aus dem Nichts zwei verschwommene Silhouetten auftauchten, die ums Haus in den Garten schlichen. Zwei kräftige Männer in Bundeswehrparkas drückten sich um die Hausecke. In den Händen hielten sie abgesägte Dachlatten. Melinda ermahnte Zippo zur Ruhe, doch das war gar nicht vonnöten. Er schien genau zu wissen, was Melinda von ihm wollte, ohne dass sie mit ihm sprechen musste. Sie war an der Stelle mit dem Hackklotz angelangt und schielte nach der Axt. Sollte sie sie mitnehmen? Für alle Fälle? Sie entschied sich dagegen, weil sie nicht wusste, wie sie Leine, schussbereiten Revolver und einsatzbereite Axt mit zwei Händen transportieren sollte. Mit gesenktem Kopf schlich sie hinter einen Holzstapel und versuchte zu erkennen, was die Männer vorhatten. Das Herz rutschte ihr in die Hose. Da vorn stand nur noch einer von ihnen und drückte seine Nase an einem der Fenster platt! Verdammt! Wo war der zweite geblieben? Zippo wurde unruhig und zog an der Leine. Noch einmal versuchte sie ihm wortlos eine Anweisung zu schicken, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung neben sich wahrnahm. Sie fuhr herum, geriet dabei aus dem Gleichgewicht und fiel nach hinten. Eine Handbreit neben ihrem Kopf schlug eine Dachlatte in den Boden und ließ den frisch gefallenen Schnee aufwirbeln. Ein massiger Körper in olivfarbenem Parker erschien über ihr. Melinda sah teigige Gesichtshaut, einen grimmigen Bart, eine Narbe auf der Stirn. Der Unhold holte zum nächsten Schlag aus. Instinktiv ließ Melinda die Leine los und kroch rückwärts, so schnell es ihr möglich war, unter einen ausladenden Kirschlorbeerbusch. Ihr Hosenboden scheuerte über raue Wurzeln. Scharfkantige Blätter stachen ihr in die Handflächen. Sie hörte Zippo weit entfernt bellen und hoffte, dass er nichts Unbedachtes tat. Der Bärtige brüllte.
»Hey Skinni, komm mal her! Habe das Vögelchen vom Dressler aufgescheucht!«
Melinda kroch tiefer ins Gebüsch. Ein weiteres Stiefelpaar erschien.
»Da drin oder was? Siehst du Gespenster?«
Eine Latte fuhr in den Busch. Aststücke, Blätter und Schnee rieselten Melinda in den Nacken.
»Hatte sich hinterm Holzstapel versteckt. So'n Hund war bei ihr. Sah aus wie'n Wolf!«
Der Mann, der Skinni hieß, zog erneut Schnodder hoch und spuckte aus.
»Und, wo isser jetzt dein Wolf?«
Melinda schickte Zippo eine eindringliche Bitte, nicht zu bellen. Es funktionierte. Wieder fuhr die Holzlatte ins Gebüsch. Dieses Mal kräftiger und unmittelbar neben Melindas Kopf.
»Ich sach dir, die Alte vom Dressler kriecht hier im Garten rum. Die kann uns auch das Geld geben. Und wenn nicht, eine verprügelte Ehefrau hat schon so manchen Ehemann angelockt!«
Das Lachen der beiden klang als gurgelten sie mit Benzin. Melinda sah die Kerle hin und her marschieren, stehenbleiben, weitergehen, wieder stehenbleiben und mit den Stiefeln im Schnee wühlen, als überdachten sie mit aller Willensanstrengung ihre Möglichkeiten. Plötzlich rief einer von ihnen: »Sach ma, was wollen denn die da hinten? Machen die Fotos von uns?« Skinni und sein Kumpel verfielen in ein wildes Kriegsgebrüll und stürmten in Richtung Haus. Kurz darauf hörte Melinda einen Schrei. Dann noch einen. Dann wildes Gerede. Diese Stimme kannte Melinda! Sophie? Was machte die denn hier? Melinda schloss die Hand noch fester um ihren Revolver und kroch in Windes Eile unter dem Busch hervor. Wilde Kerle hin, harte Dachlatten her, wenn eine Frau in Gefahr war, dann gab es kein Zögern! Im Vorbeilaufen zog sie die Axt aus dem Hackklotz, wog sie in ihrer Hand, streckte die Hand mit der Beretta in die Luft und drückte den Abzug. Der Schuss riss ihre Hand herum, sie geriet ins Schlingern, blieb jedoch auf Kurs. Auf der Terrasse am Haus tobte ein Kampf. Einer der Parka-Typen drosch mit seiner Holzlatte auf die auf dem Boden liegende Fototasche ein. Ein Objektiv lag zerschlagen daneben. Der andere Kerl versuchte, Sophie den Fotoapparat aus der Hand zu reißen. Kurz bevor er ihr seine Dachlatte auf den Kopf schlagen konnte, richtete Melinda ihre Waffe aus und schoss ihm in den Fuß. Er schrie auf, ließ die Latte fallen und kippte nach hinten in den Schnee, wo er wie ein Fisch auf dem Trockenen hin und her zappelte und das Weiß um sich herum mit Blutspritzern befleckte. Sophie trat ihm noch einmal in die Seite, unnötig wie Melinda fand, drehte sich herum und fing die Axt auf.
»Gut gefangen!«
»Gut geworfen!«
»Sophie verdammt, was machst du hier?«
Mit geschwungener Axt stürmte Sophie auf den Unhold zu, der ihre wertvollen Objektive zu Brei geschlagen hatte. Dachlatte traf auf Metall. Sophie riss es von den Füßen. Melinda richtete die Beretta auf den Kerl.
»Latte weg, aber dalli!«
Er grinste blöd. Seine Zähne waren lückenhaft und ungepflegt.
»Und was wenn nicht?«
»Fuß-Aua.«
Er machte einen Schritt auf Melinda zu. Sophie drohte weiterhin mit der Axt. Melinda zweifelte nicht daran, dass sie dem Typen ohne zu Zögern das Ding zwischen die Augen rammen würde. Der Bundeswehrparka verzog das Gesicht. Dann schmiss er die Dachlatte von sich, ging hinüber zu seinem wimmernden Kumpel und half ihm auf die Beine.
»So einfach kommt ihr dem General nicht davon, verlasst euch drauf!«
Melinda wies mit der Waffe zum Ausgang.
»Doch, das denke ich schon! Das denke ich schon!«

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt