Ein paar Tropfen Gift und frischer Tee

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It's true I've become a skeptic.
How many couples really love?
Just wish I had a crystal ball
to show me, if it's worth it all.

(Jem – Falling for you)

Seine Tage waren eine Aneinanderreihung des immer gleichen Schemas. Er stand auf, meistens gegen sieben, weil sein Rücken ihn dann nicht mehr in Ruhe ließ. Der Husten begann noch auf der Bettkante, er hatte inzwischen eine Box mit Taschentüchern auf dem Nachtschrank stehen und einen Papierkorb direkt daneben. Sobald er wieder Luft bekam, ging er hinunter in die Küche, Stufe für Stufe, weil seine Knie nichts anderes zuließen. Lehnte sich gegen den Handlauf und wartete, bis er wieder zu Atem gekommen war, bevor er die Zeitung vom Fußboden aufhob und in die Küche ging, um seinen Kaffee aufzusetzen. Hier ging der räudige Husten weiter, meistens bis die Küche sich um ihn drehte und er glaubte, er würde gleich ohnmächtig werden.

Aber das wurde er nie. Zum Glück, er konnte darauf verzichten, überall mit einem Sauerstoffgerät durch die Gegend zu laufen. Die Leute starrten ihn so schon an, wenn er mit dem Taxi zum Einkaufen fuhr. Und die Taxifahrer hassten ihn, denn der Laden war nur drei Querstraßen weit weg, aber Harold schaffte es abends kaum die Treppe ins Obergeschoss hoch, was sollte er also machen?

Nachdem er seinen Kaffee getrunken und die Zeitung gelesen hatte, ging er ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an. Nicht weil ihn interessierte, was da lief, sondern damit jemand redete. Harold antwortete sogar, bei irgendwem musste er ja mal ein Wort loswerden.

Wenn Wendy oder Susy oder wer auch immer gerade das Wetter präsentierte also erzählte, dass ein Wolkenband von Nordost aufzog, das Regen und gebietsweise Hagel mit sich brachte, dann sagte er: „Nein, wirklich? Was sollten Wolken sonst mitbringen? Katzenbabys?" Er stritt sich gern mit den Wetterdamen. Aber er vermisste es, dass sie zurückstritten.

So wie Elly es getan hatte, bis ...

Er schüttelte den Kopf und nahm die Fernbedienung, um durch die Kanäle zu schalten. Nach dem Wetter kam der Sport und er interessierte sich nicht für Sport. Hatte er nie. Bei einer Sitcom blieb er hängen. Eine von denen, die nach den Gags das Lachen eines vermutlich schon längst toten Publikums einspielte. Er blieb jeden Morgen hier hängen, wenn der Sport begann, und wusste trotzdem nicht, wie die Sendung hieß. Es war auch unwichtig, Hauptsache es redete jemand.

Irgendwann im Laufe des Vormittags wanderte Harold ins kleine Bad im Untergeschoss und wusch sich am Waschbecken. Duschen tat er nur einmal die Woche und das kalt, weil er nicht atmen konnte, wenn zu viel Wasserdampf in der Luft hing. Deswegen bevorzugte er es, sich mit einem Waschlappen abzuseifen. Zwischendurch musste er sich immer wieder auf die geschlossene Toilette setzen und atmen. Gott, wie er es hasste, dieses ständige Atmen. Früher war alles so selbstverständlich gewesen, schlafen, essen, atmen, gehen, die Holzarbeiten, mit denen er sich so gern beschäftigt hatte, rauchen ... Insbesondere letzteres. Heute war nichts davon mehr selbstverständlich.

Kurz nach zwölf kam sein Mittagessen. Er hatte sich vor ein paar Jahren an so einen mobilen Dienst gewandt, weil er dann weniger oft einkaufen und vor allem weniger am Herd stehen musste. Er konnte kochen, hatte es lernen müssen, nachdem Elly ... Aber es erschöpfte ihn immer mehr und irgendwann war es ihm das einfach nicht mehr wert gewesen. Das Essen vom Lieferdienst schmeckte zwar scheußlich, aber wenn man es kräftig nachwürzte, konnte man es essen.

Den Nachmittag verbrachte Harold dann vor dem Fernseher oder vor dem Fenster. Er saß da oft und sah hinaus auf die verlassene Straße. Deswegen hatte er es auch schnell mitbekommen, dass schräg gegenüber wieder jemand lebte. Das Haus hatte ewig leer gestanden. Früher hatten die Snapes dort gelebt. Komische Familie. Der Vater war ein brutaler Kerl gewesen, die Frau so still, dass man sie kaum wahrnahm. Und der Junge war irgendwann einfach weg gewesen. Erst hatte Harold gedacht ... Aber die Frau hatte ihm gesagt, es sei nichts dergleichen, er sei nur auf ein Internat gekommen. Jahre später, nachdem seine Eltern sich gegenseitig umgebracht hatten oder so (Harold hatte nie rausgefunden, was mit den beiden passiert war; eines Tages hatten einfach zwei Leichenwagen vor der Tür gestanden), war er gelegentlich wieder hier gewesen. Meistens im Sommer. Und irgendwann gar nicht mehr.

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