Niemandes Grund

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I've crossed every line,
broken every boundary.
And now it's retribution time
'cause the church that I went to,
it ain't that holy.

(Stealth – Judgement Day)

„Einen Moment, Filius", sagte Minerva und sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an, „ich muss das hier kurz fertigmachen, sonst weiß ich nachher nicht mehr, was ich schreiben wollte."

„Lass dir Zeit", entgegnete Filius und kletterte auf einen der Stühle vor ihrem Schreibtisch. Sein Blick glitt über die Porträts an der Wand hinter Minerva. Die meisten der ehemaligen Schulleiter dösten in ihren Rahmen, aber Dilys war verschwunden (vermutlich war im St.-Mungos gerade mehr los), genauso wie Phineas, aus welchem Grund auch immer; soweit Filius wusste, stand der Grimmauldplatz 12 leer. Vermutlich trieb er sich irgendwo im Schloss herum und spionierte die Schüler aus.

Wie meistens, wenn Filius hier war, wechselte er ein Lächeln und ein Nicken mit Albus, der gerade mit der einen Hand Fawkes über das Gefieder und mit der anderen sich über den Bart strich. Und dann wanderte sein Blick unvermeidlich weiter zu Albus' Nachbarporträt. Doch während der Anblick von Severus' Porträt ihn sonst immer ein bisschen melancholisch hatte werden lassen, ließ er ihn jetzt verstohlen schmunzeln. Severus, der Porträt-Severus, schlief. Und das seit Anfang Juli letzten Jahres.

Minerva hatte Filius im letzten Sommer die Verantwortung für das Schloss überlassen, um eine Tagungsreise zu den Entwicklungen auf dem Gebiet der Verwandlung zu machen. So war sie nicht da gewesen, als Albus ihn eines Morgens aufgesucht und davon erzählt hatte, dass Severus seit Tagen nicht wach zu kriegen war. Filius hatte sich die Sache angesehen, aber auch wenn die Porträtmagie eine gewisse Überschneidung mit seinem Fachgebiet hatte, spielte so viel fortgeschrittene Verwandlungskunst hinein, dass er sich das Ganze nicht hatte erklären können.

Severus war natürlich nie eines der gesprächigen Porträts gewesen; da sein Gemälde erst nach seinem Tod gemalt worden war (und selbst das nur weil Harry sich dafür eingesetzt hatte; da Severus aus dem Schloss geflohen war, stand ihm streng genommen kein Porträt zu) und nicht wie die aller anderen Schulleiter bereits kurz nach dem Amtsantritt, wohnte seinem Porträt nicht so viel Wissen und Persönlichkeit inne. Aber selbst dieser Severus hatte nie mit dem Kopf auf dem Tisch gelegen und geschlafen.

„Die Schulleiterporträts sind speziell", hatte Max Houndswitt gesagt; er hatte Severus' Porträt gemalt und Filius hatte ihn damals kontaktiert. „Sie sind magisch verbunden mit dem Menschen, den sie darstellen, und je länger diese Verbindung besteht, desto naturgetreuer handeln sie später, desto mehr Wissen nehmen sie aus ihrem Leben mit in ihr Porträt."

Severus' Porträt enthielt immerhin genug seiner Persönlichkeit, um die meiste Zeit, die er tatsächlich in seinem Rahmen verbrachte, missmutigen dreinzublicken und zu schweigen. Er hatte jede einzelne Lehrerkonferenz so verbracht, bis das Thema unweigerlich bei den Verfehlungen der Slytherin-Schüler gelandet war. Jeder, der Minerva als Löwin bezeichnete, hatte nie erlebt, wie Severus seine Schüler verteidigt hatte.

Jedenfalls war der Rat, mit dem Severus Minerva hätte zur Seite stehen können, arg eingeschränkt und so war sein Rahmen meistens leer gewesen. Merlin wusste, wo er sich im Schloss herumgetrieben hatte. Nicht mal die Hauselfen hatten ihn finden können, wenn er nicht hatte gefunden werden wollen. Manchmal, sehr selten, hatte Filius ihn in einem der Landschaftsgemälde in seinem Büro gesehen, von wo aus er ihn nachdenklich beobachtet hatte. Filius hatte sich immer gefragt, was ihn zu ihm trieb; nun, inzwischen wusste er es. Ihre Freundschaft und die Notwendigkeit, sie zu verheimlichen, war anscheinend ein so essentieller Teil von Severus' Persönlichkeit gewesen, dass sie den Sprung ins Porträt geschafft hatte.

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