Ich bin jetzt niemand

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"Was?" ich wurde rot. Nicht, dass noch jemand anders etwas davon mitgekriegt hatte.

"Bin ich so leicht durchschaubar?" "Also ich glaube ich kenne dich schon etwas besser als die anderen." "Aber wie...?"
"Du hast angefangen dich selbst zu schlagen, da war er etwa einen Monat da. Das erste Mal als du es getan hast, bist du am nächsten Tag völlig gekrümmt in die Schule gekommen. Ich hab die roten Striemen an deinem Pulloverkragen gesehen und dich danach gefragt und du meintest du hättest dich bei der Gartenarbeit verletzt. Am Anfang habe ich dir geglaubt. Ich wurde erst misstrauisch als du es ein paar Wochen später wieder hattest.
Bald hatte ich bemerkt, dass du dir immer öfter auf der Unterlippe herum gekaut hattest, das machst du aber nur wenn du nervös bist. - Da! Du machst es schon wieder. Aww. Du musst doch nicht nervös sein Kleiner." beleidigt ließ ich meine Unterlippe aus dem Mund ploppen. Er lachte "Naja. Ich muss gestehen ich hatte ein Jahr gebraucht um heraus zu finden warum du es getan hast. Es war irgendwann mal nach Mathe. Er hatte dich angerempelt und sofort war deine Lippe zwischen deinen Zähnen." "...und da wusstest du es?" "Nein. Wissen tu' ich es erst seit Freitag." "Seit Freitag?" "Ja. Erinnerst du dich an unser Gespräch im Auto?" ich nickte. "Sobald ich das Wort Homosexualität ausgesprochen hatte, warst du plötzlich total nervös und-" "Ich hab auf meiner Unterlippe gekaut." "Genau. Da wusste ich es." "Also hast du mit Pater Peter gar nicht darüber geredet?" "Doch natürlich. Ich hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt dich zu outen. Ich wollte wissen wie dein Orden darüber denkt, schließlich wollte ich dich nicht in Schwierigkeiten bringen." "Was hat er gesagt?"
"Dass ich mir keine Gedanken machen muss, weil die Bibel es nicht verbietet."
Ich ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen.
"Wenn du dir so sicher warst wieso hast du es mir nicht gesagt?" "Weil ich wusste, dass du nicht auf mich hören würdest."
Hm. Da hatte er wohl recht...
"Woher wusstest du, dass ich auf Pater Peter hören würde?"
"Ich wusste es nicht."
"Hä?"
"Ich hatte es gehofft, da er schon immer deine Vaterfigur war." Ach so... Wieder verfiel ich in Schweigen. Ich war George also nicht egal und er war auch nicht verrückt geworden.

Zum Mittagessen stießen wir wieder zu den anderen. Es gab zwar Getuschel, aber entweder Frau Wagner oder Luke schienen die anderen, über den Grund für unsere Abwesenheit aufgeklärt zu haben, denn es kam keiner zu uns, um nachzufragen.
Wir setzten uns ans Ende der Tafel und begannen zu essen, als Luke sich plötzlich gegenüber von mir hinsetzte. Ich senkte meinen Blick, meine Unterlippe verschwand in meinem Mund und meine Wangen wurden heiß.
George begann ein bisschen Smalltalk mit ihm, während ich angestrengt auf meinen Teller starrte.
Plötzlich stieß George mich unterm Tisch an. Ich sah auf, ich schien eine Frage nicht mitbekommen zu haben, denn beide schauten mich erwartungsvoll an.
"Was?" George lachte leise.
"Ich habe dich gefragt, ob ich dich mal photographieren darf?" wiederholte Luke hoffnungsvoll.
"Mich?" ich war völlig entgeistert. Warum wollte er mich photographieren?
Er nickte.
"Wie wäre es mit morgen Nachmittag? Ich hol' dich nach dem Mittagessen vor deinem Zimmer ab?"
"Ich also...ich muss erst noch....also Sext ...nachholen...und ..." ich bekam einfach keinen anständigen Satz zu stande. wie konnte ich mich bloß so blamieren?
"Er meint, er muss nach dem Mittag noch sein Sextgebet nachholen und du kannst ihn dann um halb Zwei abholen." grinste George ihn an.
"Gut." sagte er nur. "Dann bis morgen." Er nahm sein Tablett und brachte seinen - mittlerweile leeren - Teller weg.
"Oh je. Was der jetzt wohl von mir denkt?" seufzte ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Ich spürte wie George mir beruhigend über den Rücken strich. "Dass du total in ihn verknallt bist." sprach er in einem beruhigenden Tonfall.
"WAS?" brüllte ich entsetzt. George brach in Gelächter aus.
"Du hättest dein Gesicht sehen sollen. Du bist der unschuldigste Mensch, den ich kenne."
Ich lief knallrot an.
Die Leute, die sich nach uns umgedreht hatten, wandten sich wieder ab und führten ihre Gespräche fort.

Nachdem ich das Sextgebet nachgeholt hatte, waren ich und George auf einen Spaziergang den Schlosspark gegangen. Jetzt saßen wir zusammen auf einer Blumenwiese in der Sonne. George lag auf dem Rücken, kaute auf einem Grashalm rum und sonnte sich.
Ich saß gedankenverloren daneben, rupfte Blumen aus und flocht sie zu einem Kranz. Das hatte ich auf diversen Kinderfesten im Kloster gelernt.

"Findest du es eigentlich komisch?"
"Was meinst du?" "Das worüber wir vorhin geredet haben...du weist schon."
"Nein. Ich weiß nicht." grinste er.
Ich zog eine Grimasse.
"Du meinst, dass du auf Männer stehst und nicht auf Frauen?"
"Geo-horge!" empörte ich mich. Wenn er das so sagte, klang es irgendwie komisch. Er lachte.
"Nein. Deine Sexuelle Orientierung ändert nichts an dem der du bist."
Das sah ich aber ganz anders. Das änderte alles. Meine ganze Zukunft. Alles worauf ich hingearbeitet hatte. Was meine Aufgabe war. Was ich war und wer ich war. Wer war ich denn jetzt? Was machte mich aus.
"Ich bin jetzt ein niemand." sprach ich meine Gedanken aus.
"Was?"
"Ich bin jetzt ein niemand." wiederholte ich.
"Doch du bist der jetzt der schwule Typ der sich nicht traut seinen Schwarm anzusprechen." grinste er. "Du bist ein gemeiner Bösewicht." schimpfte ich empört. "Nicht mal fluchen kannst du richtig." lachte er. Ich boxte ihn gegen den Arm.
"Nein. Ich mein, ich hab jetzt plötzlich keine Aufgabe mehr, die ich im Leben erfüllen kann." wurde ich wieder ernst.
"Warum? Weil du jetzt deine Aufgabe erst finden musst? So wie jeder andere Mensch auch?" "Nein! Doch...keine Ahnung." er brachte mich vollkommen durcheinander. Verstand er denn nicht, dass sich einfach so auf einen Schlag mein ganzes Leben geändert hat? Alles was mich ausgemacht hatte der Glaube, er war mein ganzer Lebensinhalt und jetzt konnte ich ihn einfach nicht so leben wie ursprünglich geplant. "Ich kann verstehen, dass du Angst hast, vor dem was kommen wird. Du hasst Veränderungen, aber du musst aufhören Veränderung immer als etwas negatives zu sehen." zog mich George aus meinen Gedanken. "Aber verstehst du denn nicht? Alles woran ich geglaubt habe, steht jetzt aufeinmal in einem anderen Licht, was ich dachte mein Leben lang zu machen ist aufeinmal keine Option mehr und das alles nur wegen diesen dummen Gefühlen. Ich hasse sie ich wünschte ich könnte sie abschalten und alles wäre wie zuvor." Verzweiflung zierte meine Stimme. George blinzelte mich gegen die Sonne an. "Du musst dich so akzeptieren wie du bist. Vielleicht ist einfach dein Weg bestimmt anders zu sein, als du bisher dachtest. Niemand hat sein Leben schon in unserem Alter durchgeplant bis an sein Lebensende und ich finde es beruhigend, dass es auch bei dir nicht so ist. Du kannst Zufälle und Gefühle nie einplanen. Ich glaube du hast einfach Angst davor anders zu sein, als du immer geglaubt hast, sein zu müssen. Du bist doch klug Bro, du kannst so vieles aus deinem Leben machen und deine höchste Priorität sollte es sein glücklich zu werden und nicht einem Plan hinter zu laufen, der einfach nicht mehr zu dir passt."

Deine höchste Priorität sollte es sein Glücklich zu werden.

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