16. ~ Vermisst

101 9 6
                                    

~ Lilly ~

Was hatte ich mir bloss dabei gedacht? Ich war doch nicht mehr ganz dicht! Ich Vollidiotin war einfach in den nächstbesten Zug gestiegen, nach London gebraust, mit einem wildfremden Typen mitgegangen und hatte mir anschliessend die Kante gegeben, sodass mir jetzt kotzübel war und mein Kopf von dem ganzen Alkohol dröhnte.

Wo war ich überhaupt? War ich in irgendeiner Hütte voller Pädophiler gelandet, die mich alle vergewaltigen wollten, oder es bereits getan hatten? Okay, halt, stopp, Lilly!

So würde jetzt mein Vater denken, aber ganz bestimmt nicht ich. Ich war nicht wie mein Vater und wollte ganz bestimmt auch niemals so werden wie er, und vor allem wollte ich nie mehr etwas mit ihm zu tun haben! Lieber hockte ich zugedröhnt in einer wildfremden Hütte mit wildfremden Leuten.

Ich hatte keine Ahnung, wie viel ich getrunken hatte, oder ob ich noch irgendwelche Drogen genommen oder etwas geraucht hatte. War ja auch egal, denn das einzige was jetzt zählte, war, dass die Kopfschmerzen und die Übelkeit vorbeigingen. Alles andere war mir im Moment so was von egal.

Schwerfällig zog ich die Decke, mit der mich irgendjemand zugedeckt hatte, über meinen Kopf und wurde augenblicklich von einer angenehmen Dunkelheit umhüllt. Die Dunkelheit fühlte sich so gut an, dass ich mich einfach in sie hineinfallen liess und wegdriftete.

~~~~

Als ich aufwachte, fühlte sich mein Kopf schon wieder etwas besser an, und die Übelkeit hatte vollständig nachgelassen. Langsam setzte ich mich auf, streckte mich ausgiebig und sah mich anschliessend erstaunt um. War ich nicht in einem Wohnzimmer auf einer Couch eingeschlafen?

Jetzt hockte ich in einem riesigen, bequemen Bett, das in einem recht grossen Raum mit weissen Wänden und einem grossen Fenster stand. Irgendjemand musste mich, als ich geschlafen hatte, hierhin getragen haben. Bei dem Gedanken lief es mir kalt den Rücken runter. Wer hatte mich wohl angefasst und hierhin getragen?

War es wohl dieser Typ gewesen, den ich am Bahnhof getroffen und der mich hierhin geschleift hatte? Wie hiess er gleich nochmal? Irgendwas Spanisches glaube ich. Fieberhaft liess ich meine Gehirnzellen, die immer noch etwas betäubt waren von dem ganzen Alkohol, nachdenken.

Ach ja, Carlos glaube ich! Hoffentlich hatte der mich hierhin getragen und nicht einer von den anderen versifften Typen, die pennend auf dem Boden lagen, als Carlos und ich hierhin kamen. Ihn kannte ich wenigstens ein bisschen, aber von den anderen drei wusste ich nicht mal den Namen.

Mit einem leisen Plumps liess ich mich wieder auf das weiche Bett zurückfallen. Ich wollte nicht aufstehen und auch nicht wissen, wo ich war, wer um mich herum war und schon gar nicht, was als nächstes passieren würde. Lieber zog ich mich wieder unter die warme Decke zurück, anstatt mich der Frage, was ich als nächstes tun oder wo ich hingehen würde, zu stellen.

Ich wollte diese Fragen einfach, so lange wie möglich hinausschieben und nur das geborgene Gefühl des Bettes und der Decke geniessen. Minutenlang starrte ich einfach nur die schneeweisse Decke an und dachte nach.

Nein, ich dachte nicht an die Zukunftsfragen, sondern an die Vergangenheit. Denn die Vergangenheit prägte die Zukunft. Sie alleine hatte dafür gesorgt, dass es so weit kam. Nur sie war schuld daran, dass ich in einem wildfremden Bett in einer wildfremden Wohnung mitten in London lag und keine Ahnung hatte, was ich als nächstes tun oder wo ich hinsollte.

Warum hatte sie mir das angetan? Warum war die Vergangenheit nur so gemein zu mir? Was hatte ich ihr bloss getan?

Vorsichtig betastete ich meine Schulter, die manchmal immer noch schmerzte. Dort wo die Kugel in meine Schulter eingedrungen war, hatte sich eine fette, dunkelrote Narbe gebildet, die mit der Zeit immer mehr in ein Rosa und schliesslich in ein Weiss verblassen würde. Aber sie würde nie ganz weggehen, das hatte mir der Arzt gesagt.

Escape...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt