60. ~ Verdrängung

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~ Carlos ~

So vorsichtig, wie ich nur konnte, tupfte ich mit einer Ecke des Badetuchs mein Gesicht ab. Überraschenderweise schaffte ich es sogar, ohne dabei direkt wieder irgendwas aufzureissen. Länger, als wahrscheinlich gut für mich war, blieb ich vor dem Spiegel stehen und starrte abwechselnd auf die Narben an meinen Armen und in mein Gesicht. Ich sah einfach furchtbar aus. Es war echt ein Wunder, dass nicht alle Menschen schreiend vor mir wegliefen.

Erst jetzt fielen mir die Einstichstellen an meinem Hals auf. Es waren zwei direkt übereinander an meiner Halsschlagader und darum herum hatte sich die Haut blau verfärbt. Vorsichtig fuhr ich mit den Fingerspitzen meiner unverletzten Hand darüber.

Ich konnte echt nicht nachvollziehen, warum es Menschen gab, die sich sowas täglich antaten. Klar, die Wirkung davon war ja nicht schlecht gewesen, zumindest konnte man sich dadurch halbwegs in eine andere Welt flüchten und die ganze Scheisse um einen herum vergessen, aber es hatte ja schliesslich nicht sonderlich lange angehalten. Ausserdem fühlte man sich danach gleich doppelt so beschissen wie vorher und die Einstichstellen taten echt weh, wenn man darüber fuhr. Langsam aber sicher liessen die Übelkeit und das Schwindelgefühl zwar nach, aber trotzdem würde ich das auf keinen Fall noch mal wiederholen wollen.

Schon wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Ich wusste nicht mal richtig, weshalb. Rasch riss ich meinen Blick vom Spiegel los und machte mich endlich daran, mich anzuziehen. Ich brauchte mich nicht mal mehr richtig abzutrocknen. Die Zeit, die ich vor dem Spiegel verschwendet hatte, hatte offenbar gereicht, dass ich von selbst trocken wurde.

Mühselig quetschte ich mich in die Klamotten, die ich mir rausgesucht hatte. Erst nachdem ich mich in die Jogginghose und das weisse T-Shirt gezwängt hatte, wurde mir bewusst, dass ich immer noch am Zittern war. Meine gesamten Arme waren mit Gänsehaut überzogen. Selbst als ich darüber rieb, ging das Zeugs nicht weg. Aber egal, das war ja im Moment so ziemlich mein kleinstes Problem.

Schnell zog ich mir den grauen Pullover, der mir etwas zu gross war, über und verdeckte dadurch meine vernarbten Arme. Ich konnte nur hoffen, dass nicht einer der Schnitte plötzlich anfing zu bluten, denn durch den hellgrauen Stoff wäre selbst der kleinste Blutstropfen sofort durchgesickert. Mist, ich hätte mir eigentlich was Schwarzes nehmen sollen, aber jetzt war es schon zu spät.

Langsam aber sicher sollte ich vielleicht runtergehen. Die hatten ja gesagt, dass sie noch was mit mir besprechen wollten oder so ähnlich. Zögerlich warf ich einen letzten Blick in den Spiegel und wischte mir mit dem Ärmel die Augen trocken. Die brauchten mich schliesslich nicht schon wieder heulen zu sehen. Lustlos hob ich Lucas Klamotten vom Boden auf und riss die Badezimmertür auf. Als ich über den Bonzen-Flur stolzierte, vernahm ich leise Stimmen von unten. Am liebsten wäre ich stehen geblieben und hätte gelauscht. Die redeten zu hundert Prozent über mich.

Aber ich hatte nicht mehr die Kraft, zu lauschen. Ich wollte einfach nur noch schlafen. Die Verlockung, mich einfach aufs Bett zu schmeissen und zu pennen war gross, als ich zurück im Zimmer von Normalos Sohn Lucas dreckige Klamotten achtlos auf den Boden schmiss. Aber andererseits wollte ich auch wissen, was die mit mir besprechen wollten. Vielleicht war es ja wichtig und betraf meine Geschwister, da konnte ich nicht einfach pennen gehen. Schweren Herzens riss ich meinen Blick von dem gemütlich aussehenden Bett los und machte mich auf den Weg nach unten.

Dabei gingen mir echt seltsame Gedanken durch den Kopf. Normalo war ja doch nicht so ein stinknormaler Durchschnittsmensch, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Zumindest sein Lohn musste überdurchschnittlich sein. Vielleicht sollte ich ihn in Zukunft in meinen Gedanken Silvan nennen, so hiess er ja anscheinend in Wirklichkeit und Normalo schien ja wohl doch nicht so ganz zu passen.

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