85. ~ Das Hier und Jetzt

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~ Carlos ~

Während draussen die Landschaft in einem Mordstempo an mir vorbeiflog, fühlte ich mich beinahe wieder so, wie an Heiligabend. Der einzige Unterschied bestand darin, dass es damals mitten in der Nacht und arschkalt gewesen war. Jetzt klebte mir das T-Shirt unangenehm am Rücken und ich lehnte den Kopf an die Scheibe, da sie das einzige war, was ein bisschen Kühle abgab.

Als draussen der Gatwick Airport, der zweitgrösste Flughafen Londons vorbeirauschte, schlürfte Lilly neben mir nicht gerade geräuschlos ihren Eistee und presste sich zusätzlich die kalte Cola Zero, die ich mir vorhin am Bahnhof gekauft hatte, gegen die Stirn. Ich sah sie grinsend und mit hochgezogener Augenbraue von der Seite an, was sie jedoch erst nach einer ganzen Weile checkte.

<< Was denn? Wir sind ja alleine hier >>, meinte sie schliesslich unschuldig und schulterzuckend. Ich schüttelte als Antwort nur leicht den Kopf und starrte wieder aus dem Fenster. Wir waren tatsächlich beinahe alleine im Zug, zumindest sassen in diesem Waggon nur drei andere Leute, die allesamt Musik hörten oder sonst irgendwie mit sich selbst beschäftigt waren.

Ich war echt froh, dass der Zug nicht so überfüllt war, wie ich erwartet hatte. Es war schliesslich Sommer, da fuhren die meisten Menschen nach Südengland, vor allem Brighton war ein beliebtes Touristenziel, aber vielleicht lag es daran, dass schon elf Uhr morgens war und die meisten früher aufgebrochen waren.

Lilly und ich hatten eigentlich auch schon um neun gehen wollen, aber ich hatte natürlich verpennt. Ich war erst um halb zehn aufgewacht von dem aufdringlichen Vibrieren meines Handys, das Lilly verursacht hatte, indem sie mich zugespamt hatte. Ich war zu kaputt gewesen von den letzten Wochen, sodass ich meinen Wecker nicht mal gehört hatte.

Die Schule hatte mich echt regelrecht auseinandergenommen, aber ich hatte es geschafft. Es war zwar knapp gewesen, aber ich hatte die Final exams bestanden, genau wie Miguel. Somit würden wir im August beide in die nächste Klasse kommen, aber erstmal konnten wir ein paar Wochen relaxen. Morgen fuhren wir endlich nach Spanien und ich freute mich so dermassen darauf, dass ich schon vor zwei Tagen gepackt hatte.

Obwohl ich die zwei Wochen Auszeit dringend nötig hatte, wusste ich jetzt schon, dass ich Lilly vermissen würde. Deshalb hatte ich auch darauf bestanden, dass ich heute noch was mit ihr unternehmen konnte. Julio war zwar erst nicht sonderlich begeistert gewesen, als ich ihm erzählt hatte, dass wir nach Brighton fahren wollten, aber schliesslich hatte er doch eingewilligt. Meine anderen Mitbewohner waren schliesslich auch im Urlaub oder unternahmen Dinge mit ihren Freunden, da konnte er es mir ja nicht verbieten.

Ausserdem hatte ich schon lange nichts mehr mit Lilly alleine gemacht, was ich echt vermisst hatte. Sie hatte schliesslich so viel für mich getan, als ich im Krankenhaus gewesen war. Einerseits war sie fast immer bei mir gewesen, andererseits hatte sie sich auch noch um die Sache auf Facebook gekümmert und dafür gesorgt, dass alle Leute, die daran beteiligt gewesen waren, einen dummen Kommentar zu schreiben, mir zu drohen oder mich zu beleidigen, eine Anzeige kassierten.

Für die meisten würde das zwar nicht allzu tragisch ausfallen, aber Jasmin musste wohl mit einigen Konsequenzen rechnen, da sie dafür verantwortlich war, dass dieser Mist überhaupt im Internet gelandet war. Ich hatte zwar nach dieser Sache nie mit ihr persönlich geredet, aber von der Polizei hatte ich erfahren, dass sie es wohl getan hatte, weil mein Vater auch sie und ihre Junkie Freunde mit irgendwelchen Drogen reingelegt hatte. Als ich damals mit Luca in dem Stripclub aufgetaucht war, war ihr anscheinend in den Sinn gekommen, dass sie ihre Wut auf meinen Vater wohl an mir rauslassen könnte. Ich wusste echt nicht, was ihr das gebracht hatte, aber man konnte wohl nicht alles verstehen.

Zumindest waren die Sachen jetzt alle aus dem Netz gelöscht worden und ich bekam wohl in naher Zukunft noch einiges an finanziellen Entschädigungen von gewissen Leuten, wenn der Gerichtsprozess abgeschlossen war. Ich hatte zwar kein Geld nötig, da ich in der WG alles bekam, was ich brauchte, aber trotzdem löste es ein Gefühl von Befriedigung in mir aus, dass diese Leute, die mich fertiggemacht hatten, obwohl sie überhaupt keine Ahnung von meinem Leben hatten, nun meinetwegen bezahlen mussten.

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