~ Carlos ~
In den nächsten Wochen verbrachte ich jede freie Minute mit Lilly. Wir gingen in Parks, Shoppen oder fuhren manchmal einfach ziellos mit der U-Bahn durch die Stadt. Die Zeit mit ihr war wunderschön. Sie schaffte es, mich von dem ganzen Mist zu Hause abzulenken und fragte auch nicht nach, was los war, wenn ich mal wieder schlechte Laune hatte. Ich war ihr unendlich dankbar dafür.
Nach Hause ging ich eigentlich nur noch, weil ich meine Geschwister nicht alleine lassen wollte. Wenn sie nicht gewesen wären, wäre ich Vollzeit bei Lilly, Nick, Logan und James eingezogen.
Dad schaffte es, mich immer wieder in irgendwelche kriminelle Drogenscheisse reinzuziehen. Ich hatte es mittlerweile aufgegeben, mich dagegen zu wehren, denn es brachte ja sowieso nichts. Oftmals musste ich für ihn Drogen vom einen Ende der Stadt zum anderen chauffieren, Drogen an Dealer verticken oder irgendwelche Leute überfallen und beklauen gehen.
Ich hasste es und ich hatte jedes Mal Panik, dass irgendwas schiefgehen würde, aber ich tat es trotzdem, denn ich hatte ja keine andere Wahl. Dad zwang mich dazu, denn wenn ich mich versuchte dagegen zu wehren oder auch nur eine Bemerkung über seine Geschäfte machte, haute er mir jedes Mal eine rein.
Während dieser Zeit tat ich etwas, worauf ich im Nachhinein überhaupt nicht stolz war, aber es half mir, diese Tage durchzustehen. Ich ritzte mich. Und zwar immer öfter und immer tiefer. Anfangs nur mit Rasierklingen, aber später auch mit Messern und jedem anderen spitzigen Gegenstand, der mir zwischen die Finger kam.
Es wurde immer schlimmer und ich wollte eigentlich wieder damit aufhören, da ich die Narben auf meinen Armen langsam nicht mehr ertragen konnte, aber ich schaffte es nicht, denn es tat einfach zu gut. Ich vergass dabei für einen kurzen Moment alles und konnte mich nur auf das Blut, das aus meinen Schnitten rauskam, konzentrieren.
Zum Glück war Winter, sodass ich immer langärmelige Klamotten tragen konnte und niemand merkte, was ich da tat. Nicht mal Cathy merkte es, aber sie war wohl stark mit sich selbst beschäftigt und hatte ihre eigenen Probleme. Ich konnte es ihr ja nicht übel nehmen.
Die Wochen vergingen und es wurde Dezember, Weihnachten stand also vor der Tür. Normalerweise liebte ich Weihnachten, denn es gab jede Menge Essen, Geschenke und anderen Krimskrams. Aber dieses Jahr wusste ich nicht, ob wir überhaupt Weihnachten feierten.
Mom war nur noch mit ihrem Alkohol beschäftigt und wusste wahrscheinlich nicht mal, welche Jahreszeit war und Dad interessierte sich ja sowieso nur für seine Drogengeschäfte.
Einerseits war ich froh, als wir endlich Weihnachtsferien hatten und ich mich endlich mal ein bisschen ausruhen konnte, andererseits hatte ich aber überhaupt keine Lust darauf, da ich tagtäglich meinen Vater ertragen musste. Wie ich befürchtet hatte, zeigten meine Eltern überhaupt kein Interesse daran, Weihnachten zu feiern.
Irgendwie war ich froh darüber, denn ich hatte keine Lust mit meinem Vater Weihnachten zu feiern. Es hätte sowieso nur Stress zwischen uns gegeben. Es tat jedoch weh, die Enttäuschung in Luizas Augen zu sehen, als sie begriff, dass wir in diesem Jahr keinen Weihnachtsbaum haben würden. Ruben war zum Glück noch zu klein, um das zu begreifen.
An Heiligabend rief mich Lilly an und fragte mich, ob ich sie nach Brighton begleiten wolle. Ich hatte zwar keine Ahnung, was sie dort vorhatte, aber ich sagte zu, denn ich hatte keine Lust, den ganzen Abend zu Hause zu hocken, meine Eltern zu ertragen und zu überlegen, wo ich mir den nächsten Schnitt zufügen sollte.
Also kratzte ich mein Geld zusammen, sodass ich mir ein Zugticket kaufen konnte und traf mich mit ihr am Victoria-Bahnhof. Wir setzten uns in den Zug nach Brighton und kuschelten uns aneinander. Draussen war es stockdunkel und auch das Licht im Zug war nicht gerade hell, sodass es richtig gemütlich war.
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Escape...
Teen FictionDas Leben von Carlos geht gerade ziemlich den Bach runter. Er wird aus seiner Heimat und von seinen Freunden weggerissen und muss nach London, wo er keine Menschenseele kennt. Als er durch Zufall Lilly kennenlernt, der es ähnlich erging, verliebt er...