~ Lilly ~
Fassungslos starrte ich auf mein Handy. Was zum Teufel war hier gerade los? Okay, ich hatte zwar mein Handy seit Tagen nicht mehr in der Hand gehabt, aber es war doch echt unmöglich, dass ich in dieser Zeit so viele Nachrichten bekommen hatte. Facebook war förmlich dabei, zu eskalieren und mein Handy kurz davor, abzustürzen und offensichtlich so überlastet, dass ich nicht mal auf das Nachrichtensymbol tippen konnte. Mehrmals lud ich die Seite neu, aber es funktionierte trotzdem nicht. Ich musste es wohl neu starten, denn anscheinend kriegte es nichts auf die Reihe.
Mit einem schlechten Gefühl im Magen warf ich einen Blick auf Carlos. Er schlief tief und fest und sah dabei unheimlich friedliche aus. Auf jeden Fall friedlicher als vor ein paar Tagen in Liverpool, als ich in Lucas Wohnzimmer neben ihm gepennt hatte. Obwohl er eigentlich praktisch durchgehend schlief, ging es ihm inzwischen um einiges besser. Er lag zwar noch immer auf der Intensivstation, aber er wurde nun nicht mehr künstlich beatmet und auch die Medikamentendosierung war mittlerweile herabgesetzt worden. Sein Brustkorb hob und senkte sich von ganz allein und auch sein Herz schlug langsam und regelmässig, stellte ich mit einem raschen Blick auf den Herzmonitor fest.
Er war nun sogar schon zwei Mal kurz wach gewesen. Obwohl er durch die starken Medikamente nicht wirklich bei Bewusstsein gewesen war, spürte ich, dass er wusste, dass ich bei ihm war. Seine Hand hatte einmal sogar ganz kurz meine gedrückt, was mich augenblicklich hatte von einem unglaublichen Glücksgefühl durchströmen lassen. Er war mir nicht weggenommen worden und in ein paar Wochen würde er wieder beinahe gesund händchenhaltend mit mir durch die Stadt schlendern können. Zumindest erträumte ich mir das. Was aus uns beiden wurde, würden wir schon noch irgendwann feststellen können, aber das Wichtigste im Moment war, dass er wieder gesund wurde.
Mittlerweile sass ich alleine neben ihm und hielte seine eiskalte Hand. Es war mitten in der Nacht und Nick hatte sich ein Hotelzimmer gemietet, wo er und Miguel nun pennten. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie er das bezahlen wollte, aber ich war echt froh, einen Ort zum Duschen und Umziehen zu haben. Inzwischen sass ich schon sechs Tage neben Carlos und obwohl ich nicht gerne von seiner Seite wich, war ich echt dankbar, einmal pro Tag aus dem Krankenhaus zu kommen und etwas anderes als weisse Wände zu Gesicht zu bekommen.
Nick war es auch gewesen, der mir ein Ladegerät besorgt hatte, welches nun neben dem Kabel des Herzmonitors in der Wand steckte. Erst vor ein paar Stunden, als er mir das Kabel gebracht hatte, war mir eingefallen, dass ich ja ein Handy besass und als ich dann einen Blick darauf werfen wollte, war natürlich der Akku leer gewesen. Nun war er beinahe vollgeladen, aber trotzdem schien das Handy nicht richtig zu funktionieren. Selbst als ich es wieder einschaltete, war der Internetbrowser noch immer total langsam und überlastet.
Mein schlechtes Gefühl wurde dadurch nur noch mehr bestärkt. Das Gefühl täuschte mich nicht. Mein Facebook Posteingang war komplett zugespamt mit Nachrichten von irgendwelchen komischen Leuten, die ich nicht mal kannte. Angespannt klickte ich mich durch ein paar der Nachrichten hindurch, wobei mein Mageninhalt immer wie mehr den Hals hochkroch. Was waren das nur für grausame Menschen? Keine Beleidigung und Drohung wurde ausgelassen und je weiter ich mich durch die Nachrichten hindurchscrollte, desto mehr stellte ich den Verstand der gesamten Menschheit in Frage.
Diese Nachrichten von wildfremden Menschen trafen mich mehr, als jede Beleidigung, die mir jemals an den Kopf geworfen worden war. Vor allem deshalb, weil die meisten an Carlos gerichtet waren. Ich spürte, wie neben meinem Mageninhalt auch noch eine unkontrollierte Wut in mir aufstieg. Niemand hatte das Recht, ihn so zu beleidigen und fertigzumachen, vor allem nicht nach dem, was er hatte durchmachen müssen und noch immer durchmachte.
Ausserdem machte es mir echt Angst, dass all diese Menschen mir schrieben. Woher wussten die alle, dass wir mal zusammen gewesen waren und was zur Hölle war eigentlich der Grund für all diese Beleidigungen?
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Escape...
Teen FictionDas Leben von Carlos geht gerade ziemlich den Bach runter. Er wird aus seiner Heimat und von seinen Freunden weggerissen und muss nach London, wo er keine Menschenseele kennt. Als er durch Zufall Lilly kennenlernt, der es ähnlich erging, verliebt er...