74. ~ Auf dem Boden der Realität

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~ Cathy ~

Mit leerem Blick starrte ich aus dem Fenster. Vor mir erstreckte sich die Skyline der Stadt mit all ihren Wolkenkratzern, dem bekannten Riesenrad und sogar dem Big Ben, der sich in weiter Ferne deutlich zwischen den Wolkenkratzern hervorhob. Die frühe Abendsonne tauchte die ganze Stadt in einen goldenen Schimmer und verwandelte die Themse, die sich mitten hindurchschlängelte, in ein glitzerndes Naturschauspiel.

Nach allem, was in den letzten Tagen passiert war, fühlte ich mich ausgesprochen wohl und sicher hier, was nie zuvor der Fall gewesen war. Ich glaube, das lag daran, dass mir nach all dem, was geschehen war, endlich klar geworden war, dass ich hierhin gehörte und nicht nach Liverpool. Die Stadt oder vielmehr die Leute in Liverpool hatten mich eindeutig spüren lassen, dass das nicht mehr meine Heimat war und dass ich da nichts mehr zu suchen hatte.

Ausserdem war mir nie bewusst gewesen, wie schön London eigentlich war. Aber bis jetzt hatte ich die Stadt auch noch praktisch nie bei schönem Wetter gesehen und vor allem nicht aus einer solchen Perspektive. Die Aussicht aus dem elften Stock des Krankenhauses war unnatürlich schön und wäre da nicht der stechende Geruch des Desinfektionsmittels gewesen, der sich schon beinahe schmerzhaft in meine Nase bohrte, wäre ich wahrscheinlich vor lauter Staunen komplett in dem Anblick versunken.

Aber das Krankenhaus hielte mich erbarmungslos auf dem harten Boden der Realität fest und gönnte mir keine Sekunde Ablenkung. Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick nach draussen kehrte ich der Skyline den Rücken zu und nahm wie aus weiter Ferne die Leute um mich herum wieder wahr. Meine Finger umklammerten dabei die heisse Teetasse so fest, dass es eigentlich echt ein Wunder war, dass das Porzellan nicht zersprang und sich das brühend heisse Wasser über mich und den Boden ergoss. Irgendjemand vom Krankenhauspersonal hatte mir die Tasse vorhin in die Hand gedrückt und ich hatte sie nur aus Höflichkeit nicht abgelehnt.

Der Inhalt schmeckte genauso scheisse, wie er aussah und ich musste mich förmlich zusammenreissen, dass ich es nicht direkt wieder ausspuckte, als ich vorsichtig einen kleinen Schluck nahm. Aber ich zwang mich dazu, das scheussliche Zeug in mich hineinzuschütten, denn ich hatte verflucht kalt. Obwohl es eigentlich nicht wirklich kalt war hier drinnen, strahlte der Raum eine solche Kälte aus, dass einem selbst in der dicksten Winterjacke ein eiskalter Schauer über den Rücken lief, wenn man hier reinkam.

Prüfend warf ich einen Blick zu den anderen. Ihnen schien es genauso zu gehen, ich bildete mir die Kälte also nicht einfach nur ein. Lilly hatte sich die Jacke von Carlos eng um die Schultern geschlungen, während sie neben ihm auf dem Bett hockte und seine Hand hielte. Das tat sie nun schon seit drei Tagen praktisch ununterbrochen. Die einzigen Male, die sie wiederwillig von seiner Seite gerückt war, waren dann gewesen, als die Ärzte uns rausgeschmissen hatten, weil sie Carlos untersuchen mussten. Und selbst in diesen Minuten hatte sie sich nie mehr als zwei Meter von seiner Zimmertür entfernt.

Sie tat mir unendlich leid. Mein Bruder lag ihr offenbar mehr am Herzen, als ich geglaubt hatte, ihr dauertränenverschmiertes Gesicht sprach Bände. Auch Miguel tat mir richtig leid. Dunkle Augenringe zierten sein Gesicht, was ihm ein Aussehen von einem Zombie, der seit Tagen nicht mehr gepennt hatte, verlieh. Auch er wich kein Stückchen von Carlos' Seite und ich war den beiden verdammt dankbar dafür. Denn ich hatte zumindest in den letzten zwei Tagen nicht für ihn da sein können.

Ohne zu checken, was überhaupt um mich herum abging, hatte ich ganze zwei Tage lang nutzlos in einem Krankenhausbett gelegen und mit grösster Mühe versucht, alles Scheussliche aus meinem Gehirn zu verbannen. Es hatte auch recht gut funktioniert. An die meisten Dinge konnte ich mich nur noch dunkel und schemenhaft erinnern. Ich hatte keinen Plan mehr, was in der alten Fabrikhalle alles passiert war und auch wie Luiza, Ruben und ich dahin gebracht worden waren, wusste ich nicht mehr. Ausser diese eine Sache, die mein Bruder niemals erfahren durfte, bekam ich einfach nicht aus dem Kopf.

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