~ Lilly ~
Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich da gerade tat. Eigentlich hätte ich Nick, Miguel und Luca helfen sollen, aber stattdessen stand ich stocksteif da und starrte den Mörder meiner Mutter reglos an. Die Waffe lag geladen und schwer wie Blei in meiner Hand. Es bot sich also die beste Gelegenheit, um mich für das zu rächen, was er mir angetan hatte. Meine ganze Familie war daran zerbrochen und kaputtgegangen und ich hatte wegen ihm mein zu Hause in Miami verloren.
Mir war gar nie bewusst gewesen, wie viel Wut sich deswegen in mir aufgestaut hatte, aber jetzt, wo er vor mir stand, konnte ich förmlich spüren, wie sie meinen Hals hinaufstieg und mich zum Explodieren bringen wollte. Meinen Zeigefinger hatte ich schon schussbereit auf den Abzug gelegt. Er kehrte mir den Rücken zu und starrte fasziniert auf Nick, der gerade seine grosse Show mit der Kalaschnikow abzog. Nick machte seine Sache wirklich gut und hatte die Aufmerksamkeit von jedem einzelnen hier im Raum auf sich ziehen können.
Deshalb hatte wohl der Mörder meiner Mutter auch noch nicht bemerkt, wer da mit einer Waffe im Anschlag und einer verdammt grossen Wut im Bauch hinter ihm stand. Es hätte wirklich keinen besseren Augenblick geben können, um endlich für Gerechtigkeit zu sorgen. Das war ich meiner Mutter schuldig. Von dem ganzen Pack, das sich hier aufhielte, hätte wahrscheinlich eh keiner die Eier in der Hose gehabt, die Polizei anzurufen. Die sahen alle so versifft aus, als wären sie selbst schon jahrelang vor der Polizei auf der Flucht. Ausserdem waren wir mitten im Nirgendwo. Ich hätte also problemlos abdrücken können, ohne Angst haben zu müssen, Probleme zu bekommen.
Auf einmal spielte sich in meinem Kopf wieder der gleiche Film ab, der mich seit Monaten verfolgte und mir immer wieder den Schlaf raubte. Ich in unserer dunklen Küche in Miami mit einem Glas Wasser in der Hand. Dann waren da die grünen Augen, die mich einerseits erschrocken, andererseits hämisch grinsend angestarrt hatten. Dann war da noch das laute Klirren, als ich das Glas hatte fallen lassen, das sich wie ein sich ständig wiederholendes Mantra in meinen Kopf gebohrt hatte.
Auch den Schmerz, als sich die Kugel in meine Schulter gebohrt hatte, konnte ich noch immer körperlich fühlen, obwohl ich ganz genau wusste, dass er nicht mehr real war. Und natürlich war da noch das Bild meiner Mutter, wie sie aus dem Schlafzimmer gerannt kam und mich schützend zu Boden gerissen hatte.
Als Nick anfing, mit der Kalaschnikow herumzuballern, wurden mir natürlich sofort wieder die vier Schüsse von damals in Erinnerung gerufen. Nicks Schüsse waren zwar bedeutend lauter als die von damals, aber sie fühlten sich nicht so bedrohlich und tödlich an. Zumindest für mich nicht. Alle anderen hier drin schienen wohl schwer beeindruckt davon zu sein, aber das nahm ich gar nicht wahr.
Zu sehr war ich damit beschäftigt, ihn anzustarren und die Pistole auf ihn zu richten. Meine Hand mit der Waffe zitterte nicht mal ein bisschen. Ich hatte ja Nick, Miguel und Luca bei mir und die Waffen lagen schliesslich in unseren Händen, sodass ich keine Angst zu haben brauchte. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, starrte ich ihn so lange an, bis er meinen Blick spürte und sich umdrehte. So wütend, wie ich nur konnte, starrte ich ihn an und hatte nicht die geringste Mühe, seinem Blick standzuhalten.
Trotzdem war es ein seltsames Gefühl, ihm nun schon zum dritten Mal gegenüberzustehen. Damals bei Carlos zu Hause, als ich ihm zum zweiten Mal über den Weg gelaufen war, hatte er mir beinahe notgeil hinterhergestarrt. Heute spiegelte sich in seinen Augen eher Stress, Demütigung und Angst. Es war natürlich nicht so, dass ich Mitleid gehabt hätte, denn wenn man sowas tat, hatte man kein Mitleid verdient, aber es hielte mich doch davon ab, so unüberlegt auf den Abzug zu drücken.
Schliesslich wäre ich dadurch nicht viel besser gewesen, als er. Ausserdem konnte ich es auch nicht bringen, das vor den Augen von Carlos zu tun. Ich sah aus dem Augenwinkel, dass er gerade dabei war, zusammen mit Luca seine kleine Schwester zu befreien und wahrscheinlich hätte er es im Eifer des Gefechts nicht mal mitbekommen, wenn ich abgedrückt hätte, aber ich brachte es nicht über mich.

DU LIEST GERADE
Escape...
Teen FictionDas Leben von Carlos geht gerade ziemlich den Bach runter. Er wird aus seiner Heimat und von seinen Freunden weggerissen und muss nach London, wo er keine Menschenseele kennt. Als er durch Zufall Lilly kennenlernt, der es ähnlich erging, verliebt er...