~ Carlos ~
Ich musste tatsächlich für eine Weile eingedöst sein, denn als ich das nächste Mal aus dem Fenster starrte, kam die Sonne schon zwischen all den Wolkenkratzern hervor und tauchte die Stadt in ein seltsam feierliches Licht. Ein paar Strahlen hatten sich ihren Weg durchs Fenster gebahnt und fielen nun genau auf mein Gesicht.
Müde blinzelte ich in das helle Licht und genoss die Wärme auf meinen Wangen. Für eine Weile vergass ich sogar die Schmerzen und all die Scheisse, in der ich steckte. Aber nur für einen kleinen Augenblick. Sobald ich meinen Kopf auf die andere Seite drehte, um die Krankenhauswände anstarren zu können, waren die Schmerzen sofort wieder da. Scharf sog ich die Luft ein und wollte sie für ein paar Sekunden anhalten, um mich an den Schmerz zu gewöhnen.
Aber ich kam gar nicht dazu, sondern fuhr erschrocken zusammen, als sich eine Hand auf meinen rechten Unterarm legte. Trotz der Verbände spürte ich sofort, dass es weder Lilly, noch Cathy, noch sonst irgendwer von meinen Freunden war. Augenblicklich stieg wieder die altbekannte Panik in mir hoch.
Aber nur für einen kurzen Moment, bis ich eine bekannte Stimme vernahm, die beruhigend auf mich einredete. Verwirrt hob ich den Kopf ein kleines bisschen und blickte direkt in ein freundliches Gesicht mit warmen, dunklen Augen. Sofort entspannte ich mich, als mir klar wurde, dass es weder Eric, noch mein inkompetenter Vater war, der da neben mir auf dem Bett hockte.
Erleichtert stiess ich die angehaltene Luft wieder aus und versuchte mich auf die Worte, die aus seinem Mund kamen, zu konzentrieren. << Alles ist gut, Carlos, beruhige dich. >> Mein erschrockener Gesichtsausdruck musste wohl gereicht haben, um mir meine Angespanntheit ansehen zu können. Aber vielleicht lag es auch einfach in der Natur eines Sozialarbeiters, jeden direkt zu durchschauen.
Als ich mich schliesslich soweit beruhigt hatte, dass ich in der Lage gewesen wäre, etwas zu sagen, brachte ich jedoch kein Wort über die Lippen. Einerseits, weil mein Hals total ausgetrocknet war und sich anfühlte wie eine Wüste, die noch nie einen Tropfen Regen gesehen hatte, andererseits lag es daran, dass mir in diesem Augenblick etwas bewusst wurde.
Die Art, wie seine Hand auf meinem Arm lag, das hatte ich schon mal gespürt. Es waren genau diese Hände gewesen, die mir vor ein paar Tagen in der Fabrikhalle irgendwas Weiches auf meine Wunde gepresst hatten. Ich hatte in diesem Moment zwar keinen klaren Gedanken fassen können, aber ich war mir ganz sicher, dass er es gewesen sein musste.
Nachdenklich starrte ich ihn an. Es war zum ersten Mal, dass ich diesen Typen in einer Sweatshirt Jacke und nicht in einem Anzug rumlaufen sah. Ich wollte etwas sagen, irgendeinen dummen Kommentar dazu raushauen, so wie ich es immer tat, aber ich bekam nichts als ein raues Husten über die Lippen. Mit aller Kraft schaffte ich es schliesslich noch ein undeutliches „Durst" hervor zu würgen, bevor ich erschöpft meinen Kopf wieder ins Kissen sinken liess. Ich hätte echt nie gedacht, dass reden so anstrengend sein konnte.
Aber er schien es wenigstens verstanden zu haben, denn die Hand entfernte sich von meinem Arm und ich vernahm ein paar Worte, die sich wie „warte, ich gebe dir gleich was" anhörten. Während ich sehnlichst auf irgendwas Flüssiges wartete, lauschte ich den Geräuschen von klirrendem Glas und gluckerndem Wasser, was jedoch nur noch mehr Durst in meiner Kehle verursachte. Ungeduldig schielte ich zu ihm hinüber, wie er mir ein Glas Wasser einschenkte und wollte es dankbar entgegennehmen und gierig in mich hineinschütten.
Aber meine Arme fühlten sich noch immer an wie Blei und ich schaffte es nicht, mehr als meine Finger zu bewegen. << Warte, ich helfe dir >>, meinte Julio, nachdem er meine kläglich scheiternden Versuche bemerkt hatte. Wie wenn ich ein Kleinkind wäre, drückte er mir das Glas an die Lippen und ich versuchte gierig, das Zeugs irgendwie runterzubekommen. Aber das war gar nicht so einfach. Jeder Schluck tat verdammt weh in meinem Hals und ausserdem schmeckte es echt scheusslich. Ich hätte nicht gedacht, dass Wasser so grauenhaft sein konnte.
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Escape...
Teen FictionDas Leben von Carlos geht gerade ziemlich den Bach runter. Er wird aus seiner Heimat und von seinen Freunden weggerissen und muss nach London, wo er keine Menschenseele kennt. Als er durch Zufall Lilly kennenlernt, der es ähnlich erging, verliebt er...