~ Carlos ~
Entspannt rückte ich meine Sonnenbrille zurecht und liess meinen Blick über den See schweifen. Zwei Enten stritten sich gerade um ein Stück Brot, das ihnen jemand ins Wasser geworfen hatte und verursachten dabei einen Höllenlärm. Obwohl ich Sommer, Sonne und Wärme eigentlich liebte, war es selbst mir ein Stück zu warm heute. Es war schliesslich erst anfangs Juni und dafür waren beinahe dreissig Grad am Mittag einfach zu viel.
Selbst ich war heute dazu gezwungen, im T-Shirt rumzulaufen, was ich seit letztem Herbst kein einziges Mal mehr getan hatte. Es war einfach viel zu heiss, um die Narben noch weiter zu verstecken. Aber vielleicht war das auch ganz gut so, denn so traute ich mich endlich mal, mich damit in der Öffentlichkeit blicken zu lassen. Ich hatte mir zwar heute Morgen in der Schule einige dumme und auch mitleidige Fragen und Kommentare anhören müssen, aber Miguel war immer an meiner Seite gewesen und hatte diesen Leuten ebenso dumme Antworten zurückgegeben.
Jetzt, wo wir endlich alleine auf einer Parkbank unter einem schattigen Baum mit Blick auf den See sassen, fühlte ich mich endlich komplett wohl. Die Narben waren zwar teilweise verblasst, aber noch immer sah man mir an, was ich getan hatte. Ab und zu spürte ich neugierige und mitleidige Blicke, wenn Leute an uns vorbeiliefen, aber ich hatte inzwischen gelernt, diese Blicke einfach zu ignorieren.
Langsam wandte ich den Blick von den Enten ab, als sie ihren Streit um das Brotstück beendet hatten und liess meine Augen zu Miguels Zigarettenschachtel wandern. Rauchen war etwas, was mir in den letzten Wochen ziemlich gefehlt hatte. In der WG durfte ich nicht rauchen, weil ich noch minderjährig war und in der Schule konnte ich es nur tun, wenn kein Lehrer oder Sozialarbeiter in Sicht war.
Mir war klar, dass Selena, Julio, David und Jacob in engem Kontakt mit meinen Lehrern standen. Deshalb musste ich verdammt vorsichtig sein, wenn ich auf dem Schulgelände rauchte, denn meine Lehrer hätten mich zu hundert Prozent bei denen verpetzt, wenn sie mich erwischt hätten. Wenn man jedoch ständig auf der Hut sein musste, dass man nicht erwischt wurde, konnte man seine wohlverdiente Zigarette nicht wirklich geniessen. Deshalb musste ich diese Gelegenheit, in der ich mit Miguel alleine im Park hockte, natürlich nutzen.
Wie automatisch wanderten meine Finger zu seiner Zigarettenschachtel und zündeten eine an. Genüsslich zog ich den Rauch in meine Lungen. Die erste Zigarette seit Wochen, die ich wieder mal entspannt geniessen konnte, war wirklich etwas Besonderes. Ich war mir vollkommen im Klaren darüber, dass ich mich, bevor ich in die WG zurückkehrte, noch von oben bis unten mit Parfüm besprühen musste, aber das blendete ich in diesem Moment einfach mal aus.
David war heute da und wenn er roch, dass ich geraucht hatte, dann bekam ich ziemlichen Ärger. Er war wirklich streng, wenn man sich nicht an die WG-Regeln hielte, vor allem beim Rauchen oder beim zu spät nach Hause kommen verstand er keinen Spass, was er meistens damit bestrafte, dass er einem das Handy wegnahm oder dass man tagelang ausser zur Schule nicht mehr rausdurfte.
Ich hatte anfangs echt Mühe gehabt, mit diesen vielen Regeln klar zu kommen. Bei meiner Mutter hatte ich schliesslich nie um achtzehn Uhr zu Hause und um dreiundzwanzig Uhr im Bett sein müssen. Auch damit, dass wir uns da drei Mal am Tag an den Tisch setzen und zusammen essen mussten, war ich am Anfang echt nicht klar gekommen. Früher hatte ich einfach was in die Pfanne oder in den Ofen geworfen, wenn ich Hunger gehabt hatte, manchmal war das natürlich auch mitten in der Nacht gewesen, deshalb war ich es mir überhaupt nicht gewohnt, drei Mal am Tag zu festen Zeiten zu essen.
Vor allem Frühstück fand ich richtig unnötig. Ich bekam morgens sowieso nichts runter, deshalb verstand ich beim besten Willen nicht, warum ich mich mit den anderen eine Viertelstunde lang an den Küchentisch setzen musste. Lieber hätte ich länger geschlafen, aber ich wurde jeden Morgen um sechs aus dem Bett gequält, obwohl ich meistens erst um drei oder noch später schlafen gegangen war.
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Escape...
Teen FictionDas Leben von Carlos geht gerade ziemlich den Bach runter. Er wird aus seiner Heimat und von seinen Freunden weggerissen und muss nach London, wo er keine Menschenseele kennt. Als er durch Zufall Lilly kennenlernt, der es ähnlich erging, verliebt er...