72. ~ Ungewissheit

32 3 0
                                    

~ Lilly ~

Wie festgefroren starrte ich die gegenüberliegende weisse Wand an. Die grelle Farbe tat in den Augen weh und erinnerte einem schmerzlich an den Ort, an dem man sich gerade befand. Die riesigen, grauenhaften Bilder, die überall an den Wänden verteilt waren, sollten wohl für eine bessere Atmosphäre sorgen, aber meiner Meinung nach liessen sie einem nur noch beschissener fühlen.

Nicks Arm, der schon die ganze Zeit, in der wir hier sassen, um meine Schulter lag, nahm ich schon gar nicht mehr wahr. Auch die Tränen, die ununterbrochen über meine Wangen strömten und schliesslich auf meinen Schoss tropften, spürte ich nicht. Meine Finger krallten sich so fest in die Jacke, die mir irgendein Rettungssanitäter in die Hand gedrückt hatte, dass die Knöchel weiss hervortraten.

Obwohl die Jacke schwarz war, brauchte man kein Profi zu sein, um die dunklen Flecken darauf als Blut identifizieren zu können. Auch meine Hände waren inzwischen mit Blut eingesaut, da sich meine Finger an vollgebluteten Stellen festgekrallt hatten, aber ich bemerkte es nicht mal. Ich konnte an rein gar nichts denken, ausser an das, was gerade passiert war. Selbst dass ich gerade wieder dem Mörder meiner Mutter gegenübergestanden hatte, blendete ich vollkommen aus. Das ganze Blut hatte meinen Kopf komplett vernebelt, sodass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

Nur das Bild von Carlos hatte sich klar und deutlich in meinem Gehirn festgeprägt. So deutlich, dass ich an nichts anderes denken konnte. Es war wie ein Stich ins Herz gewesen, ihn so daliegen zu sehen. Blutüberströmt und voller Schmerzen hatte er um sein Leben gekämpft und ich verfluchte Vollidiotin hatte nichts für ihn tun können. Ich war in diesem Moment so erstarrt und voller Panik gewesen, dass ich es nicht mal fertiggebracht hatte, mich wenigstens neben ihn zu knien und zu versuchen, für ihn da zu sein.

Nick hatte die ganze Zeit hinter mir stehen und mich festhalten müssen, damit ich vor Angst und Schreck nicht umgekippt war. Jetzt hätte ich mich selber dafür in den Arsch beissen können. Schon wieder hätte er mich gebraucht und ich war nicht für ihn da gewesen. Ausserdem war ich ja irgendwie mitschuldig, dass das passiert war. Wenn ich diese blöde Glühbirne nicht abgeknallt hätte, dann wäre wahrscheinlich alles ganz anders rausgekommen. Wir hatten die Situation ja schliesslich einigermassen unter Kontrolle gehabt, aber ich hatte alles versaut mit meinem verdammten Egoismus.

Natürlich wäre es die beste Gelegenheit gewesen, den Menschen, den ich am allermeisten hasste, fertigzumachen und endlich für Gerechtigkeit meiner Mutter gegenüber zu sorgen. Aber ich hätte in erster Linie an Carlos denken sollen. Ich war schliesslich wegen ihm da hingegangen, und nicht, um jemanden abzuknallen. Aber ich hatte mit meiner Aktion mit der Glühbirne echt alles vermasselt. Es war so stockdunkel gewesen, dass sich der Mörder meiner Mom mit dem ganzen Geld, welches Carlos und Luca zusammengekratzt hatten, problemlos hatte aus dem Staub machen können. Und das war noch nicht mal das Schlimmste.

Das Allerschlimmste war Carlos Schrei gewesen. Mir war sofort klar geworden, dass ich einen fatalen Fehler begangen hatte und ich hatte seinen Schmerz förmlich mit ihm gefühlt. Ich wusste zwar bis jetzt nicht, was genau eigentlich passiert war, aber es war auf jeden Fall das Schlimmste gewesen, was ich jemals hatte mitansehen müssen, neben dem Mord an meiner Mutter. Wahrscheinlich war es neben dem ganzen Blut die Angst vor dem Tod gewesen, die mich zu einer Salzsäule hatte erstarren lassen. Die ganze Szene hatte mich so stark an damals in Miami zurückerinnert, dass es sich so anfühlte, als wäre das mit meiner Mutter soeben erst passiert.

Ich hatte echt verdammten Respekt vor Miguel, dass er es fertiggebracht hatte, in diesem Moment nicht die Nerven zu verlieren und sich um Carlos zu kümmern. Er war echt ein tausendmal besserer Mensch, als ich es wohl je sein würde. Keine Sekunde hatte er Carlos Hand losgelassen und die ganze Zeit beruhigend auf ihn eingeredet, während ich nur dumm danebengestanden war. Auch im Rettungswagen hatte er ihn nicht allein gelassen und war mit ins Krankenhaus gefahren.

Escape...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt