~ Lilly ~
Zum x-ten Mal klammerten sich meine Finger in die Jacke. Wahrscheinlich hatten meine Nägel schon längst Löcher in dem dünnen Stoff hinterlassen, aber es juckte mich nicht, ob ich gerade seine Jacke komplett zerstörte. Möglicherweise brauchte er sie ja sowieso nie wieder... Ich wusste zwar, dass ich sowas nicht mal denken durfte, aber ich konnte einfach nicht anders. Die Vorstellung, dass er mich vielleicht nie wieder stürmisch umarmen oder küssen würde, war einfach grauenhaft. Und die Tatsache, dass es zum Teil auch meine Schuld war, war noch grauenhafter.
Aufmerksam verfolgten meine Augen jeden einzelnen Schritt des Arztes, obwohl meine Sicht durch einen fetten Tränenschleier ziemlich eingedämmt war. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als er auf den Typen zuging und ihm die Hand schüttelte. Ich bekam echt Angst, dass es mir gleich aus dem Brustkorb hinaushüpfte und packte panisch Nicks Hand. Er zitterte vor Angst und Nervosität, was sich natürlich sofort auf mich übertrug. Aber seine Hand gab mir wenigstens so viel Kraft, dass ich in diesen alles entscheidenden Sekunden die Tränen zurückhalten konnte.
Wie gebannt hingen meine Augen an den Lippen des Arztes, während meine Ohren gleichzeitig versuchten, jede einzelne Silbe einzufangen. Seine Stimme war klar und klang vollkommen professionell, was wahrscheinlich daran lag, dass er sowas schon tausende Male gemacht hatte, aber trotzdem konnte ich daraus einen Hauch Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit herausspüren.
Als er anfing zu reden, brannte sich jedes einzelne Wort schmerzhaft in meine Seele und ich wäre am liebsten einfach heulend nach draussen gestürmt, um diesen grauenhaften Worten zu entkommen. Aber ich wusste genau, dass jetzt vollkommen der falsche Zeitpunkt für einen Psychoanfall war. Ich konnte Carlos nicht schon wieder im Stich lassen, so wie ich es sonst immer zu tun pflegte. Wenigstens ein einziges Mal musste ich mich zusammenreissen und versuchen, für ihn da zu sein.
Wie in Trance lösten sich meine Augen von seinen Lippen und wanderten zu seinen Händen, die irgendwelche Papiere umklammerten, die er jetzt dem Typen zeigte. Seine Finger bewegten sich hektisch und passten somit perfekt zu seinem gestressten Gesichtsausdruck. Ich konnte förmlich spüren, wie mich die Hoffnung allein durch seine Gestik und Mimik immer mehr verliess.
Resigniert legte ich meinen Kopf auf Nicks Schulter und gab mein Bestes, um seinen Worten folgen zu können. Irgendwann schafften es jedoch meine Ohren einfach nicht mehr, sich diese grauenhaften Worte anzuhören und meine Gedanken drifteten ab. Wie hypnotisiert starrte ich mal wieder die Wand an, in der Hoffnung, dadurch würde all das, was ich soeben gehört hatte, ungeschehen gemacht werden.
Aber natürlich wollte mir das Schicksal mal wieder so richtig in die Fresse hauen und riss mich gewaltsam wieder zurück in die Wirklichkeit. Ich schaffte es gerade noch, den letzten Satz des Arztes aufzuschnappen, bevor er sich umdrehte und zurück zu Carlos ging. << Wir haben alles versucht, jetzt liegt's nur noch an ihm, ob er es schafft. >> Die Worte trafen mich wie Faustschläge ins Gesicht und brannten sich wie Messerstiche in mein galoppierendes Herz. Mit anderen Worten hiess das so viel wie, dass sie nichts mehr für ihn tun konnten.
Mit einem Schlag war meine gesamte Hoffnung wie weggeblasen und eine tiefe Leere machte sich in mir breit. Die Erkenntnis, dass er vielleicht genau in diesem Augenblick zum allerletzten Mal atmete, raubte mir alle Kraft auf einmal und liess eine dicke, graue Nebelschwade in meinem Kopf entstehen. Genau dasselbe Gefühl, wie vor ein paar Monaten, als ich ebenfalls im Krankenhaus erfahren hatte, dass meine Mutter gestorben war, machte sich jetzt wieder in mir breit. Das Gefühl, schuld zu sein am Tod eines Menschen, den man liebte, zerfrass einem innerlich und raubte einem alle Kraft, Hoffnung und den gesamten Mut.
In den letzten paar Monaten hatte ich dieses Gefühl mit aller Kraft zu verdrängen versucht, aber jetzt kam es mit einem Mal wieder hoch und lastete diesmal mindestens doppelt so schwer auf meiner Seele. Innerlich wusste ich genau, dass ich das nicht durchstehen würde. Nicht nochmals und vor allem nicht ohne Carlos an meiner Seite.
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Escape...
Teen FictionDas Leben von Carlos geht gerade ziemlich den Bach runter. Er wird aus seiner Heimat und von seinen Freunden weggerissen und muss nach London, wo er keine Menschenseele kennt. Als er durch Zufall Lilly kennenlernt, der es ähnlich erging, verliebt er...