~ Carlos ~
<< Seid ihr bereit? >>, rief Julio bestens gelaunt, während er sich gleichzeitig meine Tasche griff. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, ich wusste nur, dass es schon ende April sein musste. Mehrere Wochen hatte ich im Krankenhaus verbracht, aber heute kam ich endlich hier raus.
Ich hatte die Zeit hier richtig genossen. Endlich hatte ich mal meine Ruhe und genug Zeit für mich gehabt, in der ich mich hatte erholen können. Ich hatte genug Schlaf abgekriegt, viel nachgedacht und regelmässig was zu essen bekommen. Ich glaube, so viel wie in diesen Wochen hatte ich die letzten paar Monate nicht mehr geschlafen.
Wenn ich ehrlich war, bereute ich es sogar ein bisschen, dass ich nun hier rauskam. Die ganze Zeit über hatten sich hier alle bestens um mich gekümmert und ich hatte überhaupt nichts tun müssen. Die wenige Zeit, in der ich nicht geschlafen hatte, hatte ich mir mit Lesen, Musik hören und mit Lilly, Nick, Miguel und Luca zu quatschen vertrieben.
Luca hatte irgendwann nach Liverpool zurückgehen müssen, weil seine Eltern aus Italien zurückgekommen waren. Ich hatte geheult wie ein Schlosshund, als er sich von mir verabschiedet hatte. Aber seit ich mein Handy von den Bullen zurückbekommen hatte, telefonierten wir jeden Abend bis tief in die Nacht hinein. Deshalb fühlte es sich nicht mehr ganz so schlimm an, dass er nun nicht mehr in meiner direkten Nähe war.
Dafür waren Miguel, Lilly, Nick und auch James und Logan immer für mich da. Jeden Tag hatten sie mich besucht und meistens hatte auch mindestens einer von ihnen bei mir gepennt. Es war schön und beinahe unwirklich gewesen, zu wissen, dass immer jemand für mich da war. Deshalb fühlte es sich ziemlich seltsam an, als ich nun auf der Bettkante hockte und Julio mich abholte. Es war beinahe so, als würde mich das wirkliche Leben nun wieder einholen.
Miguel hatte mir geholfen, meinen ganzen Kram zusammenzupacken. Okay, er hatte mir nicht nur geholfen, er hatte so ziemlich alles gemacht, während ich nur dagesessen war und mich angezogen hatte. Mir ging es zwar inzwischen bedeutend besser, aber ich bezweifelte es sehr, dass ich das ohne ihn geschafft hätte.
Jedes Mal wenn ich mich zu hektisch bewegte, holten mich die Schmerzen wieder ein. Die Stelle, an der Eric mich getroffen hatte, hatte sich in einen dunkelroten, breiten Strich verwandelt, der auf der linken Seite meines Brustkorbes deutlich hervorstach. Daneben war noch eine zweite Narbe zu sehen, die von der Notoperation stammte.
Ich hatte die Narben bis jetzt nur ein paar wenige Male gesehen, da sie immer mit Pflastern und Verbänden zugekleistert worden waren, aber mir war klar, dass ich die wohl bis an mein Lebensende tragen würde. Die Schnitte an meinen Armen würden vielleicht irgendwann mal verblassen, aber die Narbe von Eric schien mir einfach zu gross dafür zu sein.
Ich durfte nun zwar offiziell aus dem Krankenhaus raus, aber trotzdem würde ich in Zukunft noch jeden zweiten Tag hier antanzen müssen, um die Verbände zu wechseln. Ausserdem wollten die Ärzte überwachen, ob alles gut verheilte.
Um die Narben an meinen Armen würde sich jedoch Julio kümmern. Wir hatten uns nochmal lange und ausführlich über Selbstverletzung unterhalten und ich hatte ihm hoch und heilig versprechen müssen, dass ich das in Zukunft bleiben liess. Ich wollte es auch wirklich versuchen, denn er hatte mir damit gedroht, dass er mich in eine Psychiatrie steckte, wenn ich mich nicht daran hielte. Darauf konnte ich natürlich ganz gut verzichten.
Ausserdem wollte ich es nicht nur für mich selber tun, sondern auch meinen Freunden zuliebe. Ich hatte genau gespürt, dass sich vor allem Lilly ziemliche Vorwürfe deswegen machte, weil sie nichts mitbekommen hatte. Aber auch Miguel wollte ich es nicht schon wieder antun, dass er mich nonstop verarzten musste.
DU LIEST GERADE
Escape...
Genç KurguDas Leben von Carlos geht gerade ziemlich den Bach runter. Er wird aus seiner Heimat und von seinen Freunden weggerissen und muss nach London, wo er keine Menschenseele kennt. Als er durch Zufall Lilly kennenlernt, der es ähnlich erging, verliebt er...