Angekleidet

60 6 0
                                    

Als ich mit allem fertig war, ging ich in das Gemach. Meine Hand streifte an der kunstvoll bemalten Wand entlang. Ich setzte mich auf die Fensterbank, wo mein Tagebuch lag. Dad hatte mir meinen wichtigsten Gegenstand mitgebracht. Auf der Fensterbank war eine bestickte Decke und dunkelgrüne Kissen. Grün musste die Lieblingsfarbe des Menschen sein, der hier wohnte. Ich selbst liebte auch grün, also perfekt.

Ich schaute nach draußen. Das Gemach, indem ich war, musste an der Rückseite des Schlosses sein. Der Turm, indem mein Gemach war, war etwa 400 Meter hoch! Ich hatte alles im Überblick und konnte im wahrsten Sinne des Wortes einfach nicht glauben, dass ich hier war! Der Fogforest lag gruselig in seinen Schatten. Ich hielt mein Tagebuch fest umschlungen, während ich beobachtete, wie Nebelschweden über den Waldboden schwebten. Nicht umsonst hatte der Wald diesen Namen verdient. Aber etwas Mystisches konnte ich dem Wald sehen. Etwas Gefährliches. Vögel hatten Unterschlüpfe in dem Dickicht der Bäumen gefunden, wegen des Regens, das ungleichmäßig an das Fester schlug.

Ich klappte mein Tagebuch auf und holte mir von dem Schreibtisch einen Stift. Ich setzte den Stift an...

Liebes Tagebuch,

was ist hier los? Gestern hatte ich unbeschreibliche Schmerzen, die ich mir niemals hätte vorstellen können! Sie waren so schlimm, dass ich 16 Stunden lang ohnmächtig war! Ich kann mir nicht erklären, was es war. Ich habe Angst. Ja, ide Jolina Lockwood hat Angst. Es ist ein komisches Gefühl, das zu empfinden.

Ich bin im Haddingtonschloss aufgewacht anstatt im Krankenhaus, was die Situation nicht merkwürdiger macht. Dad sagte, ich würde beim Dinner alles erfahren. Ich bin gespannt, was er mir zu sagen hat.

Mein Magen fühlt sich an, als würde er Achterbahn fahren und nicht nur weil Dad mich belügt.

Es klopfte.

Ich wurde aus meinen Gedanken zurückgeholt. "Ja bitte?", sagte ich und schaute auf.

Eine große schlanke Frau erschien. Mein Blick fiel sofort auf ihr Kleid. Es war rot und blau, hatte wunderschöne Stickereien und tolle Ärmel. Vielleicht aus dem Jahre 1800 irgendwas. Sie trug einen riesigen Hut, das ihr Gesicht nur leicht preisgab. Außer der Lippen, wo knallroter Lippenstift aufgetragen wurde, war nichts zu sehen. Ihre schwarzen Haare hatte sie sich zur rechten Seite gelegt, die locker auf ihre Schulter fielen.

"Guten Abend, Miss Lockwood. Ich bin hier um sie für's Dinner einzukleiden." Sie hatte einen starken französischen Akzent, was sie irgendwie sympathisch wirken ließ.

"Ähm... okay." Ich war etwas verwirrt. Aber schließlich war Mr Haddington vom besten britischen Adel, also musste ich mich wohl ankleiden lassen, ob ich wollte oder nicht. Außerdem schien im Schloss die Zeit stehen geblieben zu sein, wie im Inneren von Mr Haddington. Also: Da musst du durch Jo.

Ich unterdrückte mir einen tiefen Seufzer, stand von der Fensterbank auf und legte mein Tagebuch beiseite.

"Endlich kann ich mal so ein wunderschönes junges Mädchen wie Sie ankleiden Miss." Sie nahm ihren Hut ab und lächelte mich zuckersüß an. "Ich heiße übrigens Mme Durand."

Sie hatte wenige Falten und sah viel jünger aus, als sie es in Wahrheit war. Vielleicht war sie früher einmal ein Model gewesen. Das Make-up machte einiges an ihr aus. Vielleicht war Mme Durand 50 oder so. Ihre Gesichtszüge waren hart und trostlos, die sie mit ihrem zuckersüßen Grinsen überspielte. Sie hatte eine super Figur und war in bester Form.

Ich lächelte zurück. "Oh... ähm danke."

"Ach, genau wie unsere Miss Grace! So bescheiden!" Mme Durand lächelte immer noch zuckersüß. Wie lange hielt sie denn das aus?

Aber etwas anderes brannte mir auf der Zunge, als ihr Lächeln. "Entschuldigen Sie, aber was meinen Sie damit? Wer ist Grace?" Mit einem prüfendem Blick sah ich sie an. Ich hasste es, wenn mich jemand mit anderen verglich.

Ihr zuckersüßes Lächeln verschwand auf einen Schlag, als sie den Namen Grace hörte. Auf dem Absatz drehte sie sich um und lief mit gewagten langen Schritten (trotz des Kleides) in Richtung des begehbaren Kleiderschrankes. "Kommen Sie Miss Lockwood." Mme Durand sah über ihre Schulter.

Der Begehbare Kleiderschrank war unglaublich groß mit tausenden Schränken. Für mich war es ein totaler Mädchentraum! Wow! Ich erblickte die schönsten und ältesten Kleider, als Mme Durand die Schränke mit einer schwungvollen Bewegung aufriss. Mit den unterschiedlichsten Farben und Schnitten. Am meisten war aber die Farbe dunkelgrün zu sehen, die ziemlich im Überfluss war. Außerdem gab es neben den vielen Schränken auch Kleiderpuppen auf denen wundervolle Kleider thronten. Trotzdem fand ich nichts normales zum anziehen.

"Nicht schlecht, was?" Sie schaute mich mit stolz erfülltem Blick an, als wären die Kleider ihr Werk.

"Das ist... ist einfach...", fing ich an.

"Unglaublich", beendete Mme Durand meinen Satz.

Ich nickte. "Woher haben Sie diese vielen, wunderschönen, alten Kleider?"

"Alles von Miss Grace - " Sie stoppte, als hätte sie etwas falsches gesagt. "Na ja." Sie räusperte sich verlegen. "Auf jeden Fall gehört das jetzt alles ihnen Miss Lockwood. Auch das Gemach und das Bad."

"Gehörte das alles Grace?", hakte ich nach. Ich erinnerte mich wie Mr Haddington Grace erwähnte. Er selbst hatte auch Andeutungen gemacht, dass ich wie sie war.

Sie nickte. "Aber ich hab schon zu viel gesagt." Mme Durand hielt kurz inne. "Alors." Sie rieb sich ihre Hände. "Sie brauchen ein perfektes Abendkleid zum Dinner. Ihr erster Eindruck soll doch perfekt sein Miss Lockwood." Sie zwinkerte mir zu.

Ich versuchte zu lächeln und eine kurze Pause entstand, indem sie mich erwartungsvoll anblickte.

Sie seufzte. "Alors Miss Lockwood, suchen Sie sich eins aus!" Sie zeigte auf die Schränke.

Ich machte sämtliche Schränke auf. Alle Kleider gefielen mir sehr, aber die Auswahl war einfach zu groß. Viel zu groß! Man verlor völlig die Orientierung! Ich griff nach irgendeinem dunkelgrünen Kleid.

Mme Durand beobachtete mich genaustens. Sie gab ein "Tres bien!" von sich, als ich ihr das Kleid zeigte. "Bon! Ein wunderschönes Kleid für eine wunderschöne Frau!"

Der Rubin gegen den Smaragd Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt