Die wahrhaftige Angst

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Ich verdrehte die Augen. "Geh!", sagte ich seufzend. "Ich will keinen Streit anfangen."

"Ich dachte du schläfst noch", murmelte er leise.

"Ach ja? Damit du herumschnüffeln kannst, dass ich auch ja nicht ausbreche?", schnaubte ich wütend.

"Nein, hör mir zu Jolina." Er setzte sich auf mein Himmelbett. "Ich habe übriges dein Handy." Er warf es mir zu.

Ich fing es und warf es dann knallend auf den Schreibtisch. Zum Glück zersprang es nicht. Aber Dad sollte einfach merken, wie unglaublich wütend ich auf ihn war. "Was willst du mir sagen?", fauchte ich und stand auf. "Das es dir ja so furchtbar Leid tut und du nur das Beste für mich willst?" Ich funkelte ihn mit glänzenden Augen an und trat immer weiter an ihn heran. Ich sah ihm in sein fremdes Gesicht. Warum... Das war einfach zu viel für mich! Schließlich fing ich an zu weinen. Ich wollte es stoppen, aber keine Chance. Es brach einfach so aus mir heraus! Ich wusste nicht wieso, aber plötzlich schienen sich meine Beine selbständig zu machen. Ich rannte zu Dad. Er hielt mich fest in den Armen. Am liebsten würde ich ihm eine ohrfeigen - aber das tat ich nicht - warum auch immer.

"Ist schon gut", sagte er wispernd. "Ich weiß ja wie schwer das alles für dich ist. Als ich den Fluch hatte, war ich genau so aufgebracht."

So standen wir ein paar Minuten da. Es hatte keinen Sinn mir mein Weinen zu unterdrücken, denn so mehr ich es versuchte, desto mehr Tränen kamen zum Vorschein. Dad machte nicht viel. Er war einfach nur für mich da und redete beruhigend auf mich ein, während er gleichmäßig mit seinen Fingerspitzen durch mein Haar fuhr. Schon alleine das half.

"Ich komme damit einfach nicht länger klar. Mit all dem hier! Mit diesem bescheuertem Fluch, der mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hat und meinen gesunden Menschenverstand völlig zunichte gemacht hat!" Mein Weinen verschwand fast und es wurde zu einem schniefen.

"Ich weiß doch. Es ist schwer das zu verkraften. Ich spreche aus Erfahrung."

"Dad?", fragte ich und löste mich aus seinen Armen.

"Hm?", machte er und blickte mich aufmerksam an. Endlich wollte er mir zuhören.

"Wie wir die Verwandlung sein?" Ich rieb mir meine nassen Augen. "Und diesmal bitte eine ehrliche Antwort."

"Ich will dir aber keinen Schrecken einjagen. Du musst schon so vieles verkraften." Er schaute bedrückt auf seine Finger und verknotet sie. Er war nervös.

"Es macht mir mehr zu schaffen, wenn ich es hintendrein herausfinde."

Er seufzte. "Es ist eine höllische Qual, wie es sich kein Mensch erträumen könnte. Deine Knochen schrumpfen zu winzigen Knöcheln. Dein gesamtes Skelett schrumpft zu einem Rabenskelett. Es ist ein unerträglicher Schmerz." Er verzog den Mund. "Wenn deine Knochen schrumpfen und brechen ist es eine grauenhafte Qual. Es entsteht eine neue Haut. Deine Augen und dein Gehör bilden sich neu. Du spürst außerdem ein schmerzhaftes Stechen. Sie bohren sich in deine Haut, um das Gefieder zum wachsen zu bringen. Dein Gebiss wird höllisch weh tun und deine Füße, aus denen sich Krallen bilden werden."

So angsteinflößend sah ich ihn noch nie. Ich spürte meine Nackenhaare, die sich in Sekundenschnelle aufstellten. Ich hielt mir meine Hand vor den Mund, während lautlose Tränen an meinen Wangen hinunterflossen. "Das darf nicht wahr sein", flüsterte ich. Ich hatte eine solche unermessliche Angst. Ich verspürte sie in jedem meiner Knochen. Ich stellte es mir vor meinen Augen vor, wie ich krampfend am Boden lag und schrie. Meine Knochen werden sich zurückbilden und eigenhändig brechen! Jetzt wusste ich, warum Dad mich vor diesen Schmerzen als Baby verschonen wollte. "Können wir denn nicht irgendetwas machen?", brachte ich hervor.

Dad schüttelte den Kopf. "Deine Mum und ich haben alles versucht. Und den mächtigsten Trank der Welt können wir auch nicht brauen, da Mr Walthari Haddington diesen besonderen Trank in seinem Gehirn aufbewahrte. Er schrieb es nicht einmal in das Haddingtonbuch, wo alle Tränke der Haddingtons aufgeschrieben wurden. Ich habe dir einen Trank gegeben, aber er half nichts. Deshalb hatte ich auch solche Angst um dich und wollte, dass du nicht rausgehst. Ich redete mir ein, dass der Trank, den Armin und ich brauten, half, aber... deine Schmerzen sagen das etwas anderes. Niemand kann den Trank brauen außer Walthari."

Ich horchte auf. Das Haddingtonbuch! Ich musste sofort an die Botschaft von G denken. Wenn ich Dad nicht bald fragte, wo sich das Buch befand, wird G allen etwas antun, die ich liebte! Ich würde es später herausfinden. Jetzt wollte ich etwas anders wissen: "Was ist zwischen Armin und dir vorgefallen?"

Dad verzog den Mund. "Er ist mein Zwillingsbruder. Ich bin etwas älter. Natürlich hatten wir beide den Fluch, aber es war die die Eifersucht."

Ich legte meine Stirn in Falten. "Wieso das?"

Er seufzte. "Der jüngere Zwillingsbruder wird meist nicht gebraucht. Der Ältere wird bevorzugt und hat den Respekt und die Anerkennung der Regierung. Der jüngere Zwillingsbruder ist ein Ersatz. Zum Glück haben die Haddingtons ein Gen, wozu sie neigen Zwillinge zu bekommen. Armin musste auch alles hinbiegen, wie der jüngere Zwilligsbruder von John Haddington, der Dad von Grace." Er schluckte und stützte sich mit den Armen an seinen Oberschenkeln ab, während er zu Boden blickte. "Ich habe ihn verraten, indem ich mich in deine Mum verliebt habe, anstatt Xara zu Frau zu nehmen."

"Dad, das ist deine Schuld. Du konntest nichts dafür, das du Mum geliebt hast." Es tat weh, in der Vergangenheit zu sprechen. Ich legte meine Hand auf seine Schulter.

Er schaute mich liebevoll an. "Ich weiß Jolina. Aber Armin sieht das nun mal ganz anders. Er liebt die Wissenschaft, die Flüche und will immer mehr und mehr. Ich und deine Mum wollten den Fluch brechen, aber - "

"Dann kam ich." Ich schluckte.

"Jolina ich... wir..."

Ich schüttelte den Kopf. "Ist schon gut Dad." Ich legte meine Hand in seine. "Ich weiß."

"Armin hätte die Zwillinge Ezra und Liam sowieso mit Xara bekommen, also..."

Ich drückte seine Hand fester und sagte stattdessen: "Ich habe solche Angst." Ich legte mich in seine Arme. Von dieser Sekunde an lernte ich eine andere Seite von mir kennen. Die wahrhaftige Angst.

Aber diesmal konnte er mir nicht helfen. Niemand konnte das...

Der Rubin gegen den Smaragd Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt