Teil 19 - Druck auf der Brust

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„Mary? Bist du so weit?", fragte meine Mum mich jetzt zum zwanzigsten Mal. Ich rollte mit den Augen und legte meine Wimperntusche beiseite.
„Ja, Mum. Ihr könnt auch ruhig schon mal fahren, dann habe ich noch etwas meine Ruhe...", murrte ich. Letzteres sehr leise.
„Mach deine Mum nicht wütend. So kurz vor der Hochzeit." Harry schob mein Haar beiseite und küsste meinen Nacken.
„Du weißt, wie sehr ich dich liebe, aber wenn du so weiter machst, kommen wir heute nicht mehr zur Probe und wohl auch nicht pünktlich zur Hochzeit.", seufzte ich. Harry lachte.
„Na schön. Aber beeil dich, Babe." Nach einem letzten, kurzen aber intensiven Kuss verließ Harry den Raum. Kurz darauf war ich endlich alleine. Ich atmete tief durch und ging mir dann im Schlafzimmer etwas anziehen. Dabei zitterten meine Hände.
„Ganz ruhig, Mary. Es ist nur die Probe. Die Hochzeit ist doch erst in fünf Tagen.", sprach ich zu mir selber. Doch auch das half nichts. Ich schloss meine Jeans und ging dann meine Haare kämmen. Heute band ich sie schlicht zu einem Zopf zusammen. Wen interessierte es schon, wie ich heute aussah? Ich setzte meine Brille auf und betrachtete mich im Spiegel.
Ich konnte noch immer nicht begreifen, dass all dies wirklich geschehen würde. Niemals hätte ich gedacht, dass sich mein Leben so entwickeln würde. Umso glücklicher war ich heute. An dem Tag, an dem ich proben würde, den wundervollsten Menschen auf der Welt zu heiraten. Das einzige, was zu meinem Glück fehlte, war mein Dad. In Erinnerungen schwelgend ging ich ins Schlafzimmer und nahm das Bild vom Regal. Es zeigte mich und meinen Dad an meinem 17. Geburtstag. Er fehlte mir, jede Sekunde. Heute würde es sicher nicht schlimmer werden, da er ein Teil der Zeremonie sein sollte. Ich hatte ihn nicht ersetzen wollen, doch mein Retter in der Not war dieses Mal Hank gewesen. Ich war ihm dankbar, doch er konnte die Lücke nicht schließen.
Ich wurde von Minute zu Minute nervöser. Doch mir blieb nichts anderes übrig, als langsam meine sieben Sachen zu packen und mich auf den Weg ins Hampton Court House zu machen. Ich sah auf die Uhr. 08:24.
So langsam musste ich wirklich los....
Schnell sammelte ich alles wichtige ein und machte mich mit der Tasche auf den Weg in die Tiefgarage.
Ich stieg in meinen Wagen, steckte den Schlüssel ins Schloss und startete den Motor. Doch er sprang nicht an. Ausgerechnet heute, als ich es brauchte und pünktlich sein musste, sprang mein fast neuer Wagen nicht an! Wütend schlug ich auf das Lenkrad und versuchte es erneut. Ich war kurz davor aufzugeben, als er beim vierten Versuch endlich ansprang. Zur Sicherheit ließ ich den Motor ein Mal laut aufheulen, dann fuhr ich endlich los. Raus aus der Tiefgarage, hinaus in das regnerische Wetter Londons. Heute war mir das Wetter egal, solange es an meinem großen Tag nicht regnen würde...
Ein Stechen in meiner Brust ließ mich aufkeuchen. Was war das? Der Schmerz zog sich durch meinen linken Arm, hinunter bis in meine Hand. Erschrocken fuhr ich bei der nächsten Gelegenheit rechts ran. Ich fasste mir an die Brust und versuche ruhig zu atmen. Was war hier los?
Bei geöffneter Tür setzte ich mich auf den Fahrersitz und wählte Harrys Nummer. Da er wohl gerade beschäftigt war, nahm er nicht ab.
„Verflucht!", rief ich und warf mein Handy auf den Sitz hinter mir.
Der Schmerz breitete sich über meinen Schulter aus und der Druck in meinem Brustkorb stieg. Es fühlte sich an, als würde ich ersticken.
Panisch versuchte ich zu atmen.  Der Schmerz in meinem Arm ließ nach, während der Druck, der auf meiner Brust lag, schlimmer wurde. Ich wählte, um einen Notarzt zu rufen und teilte ihnen meine Adresse mit.
Hilfe wird sicher bald kommen, Mary, sagte ich zu mir selber und versuchte ruhig zu atmen. Doch der Schmerz wurde schlimmer. Erneut versuchte ich Harry anzurufen und danach meine Mum. Keiner von beiden nahm ab.
Verzweifelt stand ich auf und ging langsam die Straße entlang. Ich brauchte Hilfe.
Es fühlte sich an, als würde meine Brust zerdrückt werden und der Schmerz wurde immer schlimmer.
Wieso ich und wieso jetzt?
Tränen liefen über meine Wangen, als ich zu weinen begann. Mein Puls raste und ich wusste, dass ich nicht mal mehr sprechen konnte. Ich schwankte, da mir plötzlich sehr schwindelig wurde. Erschrocken hielt ich mich an meinem Auto fest und blickte die Straße entlang. Kein Mensch in Sicht.
Ich war ganz alleine hier.
Alleine mit meinem Schmerz und alleine mit meiner Angst.
Was würde wohl passieren, wenn sie nicht rechtzeitig kommen würden?
Als mein Handy erklang, griff ich verzweifelt danach, was nicht einfach war. Ich nahm zitternd den Anruf an und ließ das Handy fast fallen.
„Mary? Wo bist du? Geht es dir gut?", hörte ich Harry panisch fragen. Ich wollte ihm antworten. Ich wollte ihm sagen, wo ich war, wie es mir ging und dass ein Arzt auf dem Weg war, doch ich konnte nicht.
„Mary? Antworte doch!", bettelte Harry. Schluchzend lehnte ich mich an die Tür und versuchte mich zu beruhigen.
Ich kannte dieses Gefühl. Diesen Druck auf der Brust hatte ich schon einmal gehabt...
Verzweifelt versuchte ich mich daran zu erinnern.
„Was auch immer gerade geschieht, ich liebe dich. Vergiss das niemals! Wir werden heiraten und den Rest unseres Lebens miteinander verbringen. Hörst du? Ich liebe dich, Mary! Mehr als alles andere auf der Welt!", hörte ich Harrys Stimme. Leise drang sie zu mir durch, während ich noch immer versuchte, den Schmerz zu kontrollieren und mich zu erinnern. Als Harrys Stimme verklang, konnte ich von weit her Sirenen hören. Endlich waren sie hier. Endlich würden sie mir helfen. Sie würden den Schmerz nehmen.
Mit meiner letzten Kraft drückte ich mich von meinem Wagen und humpelte einige Schritte. Das Stechen in meiner Brust nahm sofort zu und ließ mich in der Bewegung erstarren.
Ich fasste mir an die Brust, atmete ruckartig aus und hauchte ein letztes Mal seinen Namen, bevor die Dunkelheit von mir Besitz übernahm und ich fühlte, dass ich fiel.

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