Siebzig

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Lovely

Ich starrte gebannt auf den Uhrzeiger und hatte das Gefühl das Ticken hallte durch den ganzen Flur, um durch meine Ohren hämmernd gegen mein betonschweres Herz zu hauen. Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange saß ich hier schon?

Minuten? Stunden?
Taub war ich. Spürte rein gar nichts außer dieser unglaublichen Schwere, die von meiner Brust aus meinen gesamten Körper eingenommen hatte und mich daran hinderte, mich auch nur etwas zu bewegen.

Vielleicht war es aber auch das Medikament, das die Krankenschwester in meinen Zugang gespritzt hatte, weil ich mich geweigert hatte in mein Krankenzimmer zu gehen. Wie eine komplett verrückt gewordenes Wesen hatte ich darauf bestanden hier zu bleiben, vor der Notaufnahme, in der Nähe von Arian.

Wie lange auch immer ich hier saß, jede einzelne, bittere Sekunde war die reinste Hölle.
Eine Hölle, die ich zuvor nie kennengelernt hatte.
Eine Hölle aus zuschnürender Angst.
Eine Hölle, die mich drohte komplett in ihrer tiefen Dunkelheit einzuhüllen.

Dauernd tauchte das schreckliche Bild von ihm auf. Voller Schmerzen im Gesicht und dem unaufhaltsamen Blut aus seinem tödlich verwundeten Körper fließend. Ich wünschte mir nichts mehr als die Erlösung von dieser letzten Erinnerung an die Person, die ich über alles liebte.

Plötzlich verwandelte sich meine deprimierte Trauer in überschlagende Wut um, als auch die Person vor meinem inneren Auge auftauchte, die der einzige Grund für alles war. Ich konnte unaufhaltsames Adrenalin durch mein Blut rauschen und mörderische Fantasien wecken spüren. Noch nie hatte ich mir etwas schlechtes für jemanden gewünscht, doch heute, heute wünschte ich den qualvollsten und erbitterndsten Tod des Mannes, der vorerst Arians gesamtes Leben kontrolliert und jetzt sogar versucht hatte es zu nehmen.

Aber kaum hatte meine Wut angehalten, gewann wieder die erschütternde Kenntnis über Arians jetzige Lage die Oberhand und betäubte jeden Zentimeter meines Leibes mit quälender Angst.

Nein. Ich brauchte keine Angst zu haben. Ich brauchte überhaupt keine Angst zu haben. Alles würde gut werden. Gleich würde der Arzt aus diesen breiten Türen der Notstation kommen und ausatmend berichten, dass es meinem Arian gut ging.

Es dauerte aber viel zu lange. Ich saß und wartete hier schon viel zu lange. Jede Sekunde stieg meine Ungeduld ins Unendliche bis die Mischung aus dieser und der doch nicht underdrückbaren Angst mich drohte in den Wahnsinn zu treiben. Ich würde verrückt werden, wenn ich hier noch eine weitere Minute still sitzen müsste.

„Wieso zur Hölle dauert das so lange?!"
Komplett erschrocken und überrascht zuckten alle zusammen, als ich nach Stunden einen Ton herausbrachte, sogar fast brüllte und hoben ihre müde gesenkten Köpfe an, um mich mit aufgerissenen Augen anzusehen.

Dann zogen sich ihre Augenbrauen bloß mitleidig zusammen und Celina legte ihre Hand auf meine.
„Nein!"
Unsanft zog ich meine Hand weg und starrte sie wutentbrannt an. Ich kannte solches Mitleid schon viel zu gut, mein Leben lang hatte ich es gekannt und heute war der Höhepunkt meines Hasses diesem Mitleid gegenüber.
„Anstatt hier zu sitzen, solltet ihr etwas tun, da reingehen und fragen, warum es so lange dauert!"
„Bel...", setzte Kelly ebenfalls mitfühlend an und wollte mir ihre Hände auf die Schultern legen.
Wortlos stieß ich diese ebenfalls von mir und wirbelte herum. Mich durchfloss Unruhe verrückt machend und ich wusste, ich könnte jetzt jeden, egal wer es war, von mir wegschubsen.
„Ok, na gut...dann gehe ich da jetzt selbst rein."

Ich setzte meine Hände auf die Stützen meines Rollstuhls und versuchte mich hinzustellen, was viel schwerer war als ich dachte.
„Bel! Setz dich wieder hin."
Alle drei versuchten mich sanft zurückzuhalten, was mein schwacher Körper auch zuließ.
„Lasst mich doch einfach da rein, verdammt!"
„Bel, du kannst da nicht einfach rein", erklärte mir Kelly sanft und schaute zu mir runter. Dieses Mal konnte mich aber ihre Sanftheit nicht beruhigen. Es war, als liefen alle Gedanken in meinem Kopf durcheinander und erlaubten mir kein klares Denken. Fest schlug ich auf die Armlehnen meines Rollstuhls.

Smile With MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt