Erst spät abends kehre ich auf den Hof zurück. Von außen erkenne ich, dass in der Küche noch Licht brennt. Meine Eltern sitzen am Esstisch über einen Katalog gebeugt.
Ich habe überhaupt keine Lust darauf, von ihnen darüber ausgefragt zu werden, wo ich den ganzen Tag war.
Also stelle ich mein Rad zurück an die Hauswand und überlege wie ich wieder nach oben komme.
Zwar bin ich schon öfters durchs Fenster abgehauen, aber zurück konnte ich immer durchs Haus schleichen, weil nie jemand in der Küche war.
Rechts neben der Türüberdachung steht unsere "Schnackbank" auf der sonst entweder Leonie mit ihren Freundinnen oder Mama mit ein paar Nachbarinnen sitzt. Heute dient sie mir aber als Aufstiegshilfe zum Dach.
Von der wackeligen Lehne ziehe ich mich hoch auf den Vorsprung. Erst da fällt mir auf, dass ich bei der ganzen Aktion nicht bedacht habe, dass mein Fenster noch offen sein muss.
Doch das Glück ist auf meiner Seite und so ist es immer noch einen Spalt von meiner Flucht geöffnet.In meinem Zimmer angekommen schließe ich als erstes die Tür ab. Auch wenn niemand im Haus weiß, dass ich da bin, will ich kein Risiko eingehen. Die Ruhe über den Tag hat mein Chaos im Kopf etwas beruhigt und irgendwelche besorgten Fragen würden das alles wieder zunichte machen.
Danach tausche ich die Jeans gegen eine Jogginghose und mein durchgeschwitzes T-Shirt gegen ein Neues. Als ich vom Grundstück gefahren bin wusste ich nicht wohin. Ich wollte einfach nur weg.
Demnach habe ich einen Sprint nach dem Anderen auf dem Fahrrad hingelegt, um möglichst viel Distanz zwischen mich und diese ganze Unordnung zu bringen. Eigentlich müsste ich gleich duschen, aber das verschiebe ich auf den morgigen Tag.Müde und fertig will ich ins Bett fallen, doch da taucht eine Sache wieder vor meinem inneren Auge auf.
Die Zeichnung.
Beinahe traue ich mich nicht zum Schreibtisch zu gehen.Was, wenn Ella vorhin wirklich in meinem Zimmer war?
Hat sie das Blatt gefunden?Zu meinem Erstaunen sehe ich die Zeichnung nicht. Auch nach ein paar Minuten des Rumwühlens bleibt das Blatt wie vom Erdboden verschluckt.
Drei Optionen schießen mir durch den Kopf.1) Ella hat das Blatt gefunden und fand die Tatsache, dass ich so oft an sie denke, dass ich schon Bilder von ihr male, so abstoßend, dass sie es gleich weggeschmissen oder vernichtet hat.
2) Da den ganzen Tag über das Fenster auf war, hat der Wind es hinausgeweht und es liegt jetzt irgendwo in der Regenrinne oder auf dem Hof.Die dritte Option kommt mir viel zu verträumt vor und trotzdem ziehe ich es in Erwähgung. Mag es die verzweifelte Hoffnung auf ein Happy End oder die Angst davor, endgültig verloren zu haben sein, doch ich halte daran fest.
3) Ella hat die Zeichnung gefunden und mitgenommen.
Der Grund, warum sie es hätte mitnehmen können ist mir egal. Aber dann war es ihr so wichtig, dass sie sie nicht hier zurücklassen wollte.
Wie so oft bleibe ich unwissend.Und wieder vergeht ein Tag ohne das ich sie sehen kann.

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The boy next door
Teen FictionKennst du das, wenn ein einschneidendes Ereignis dein Leben so verändert, dass du nie wieder wie vorher sein wirst? So geht es der 17-jährigen Ella. Nach der Scheidung ihrer Eltern zieht sie sich immer mehr zurück und niemand kann mehr richtig zu...