1. Chad: Normal

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Ich war zufrieden mit meinem Leben, das war ich wirklich. Ich hatte eine wunderschöne, tolle Freundin, die mich bedingungslos liebte, ich hatte einen kleinen Bruder, der jederzeit sein Leben für mich geben würde, ich hatte einen Job, der mich erfüllte. Ich war mit mir im Reinen, obwohl ich wusste, dass diese drei Dinge alles waren, was mich ausmachte. 

Schon von klein auf, war mir klargemacht worden, dass mein Leben bedeutungslos war, dass ich schwach war... ein Nichts. Je nach dem, wie man seine Prioritäten auslegte, stimmte das natürlich. Für meine Eltern stand es an erster Stelle, ihrer selbstauferlegten Berufung als Jäger nachzugehen. Es interessierte sie nicht, dass wir Frieden hatten und sich sowohl die Menschen als auch die Vampire darum bemühten, dass das auch so blieb. Ich war zwar ihr Sohn, doch trug nicht diesen kleinen, aber bedeutenden Teil ihrer Gene in mir, der mich auch zu einem Teil der Familie machte. Ich war ein einfacher Mensch, nicht besonders stark, nicht besonders schnell, nicht besonders schlau. Ich war einfach nur ich, doch das reichte ihnen nicht, denn ich brachte keine Vampire um. Im Moment tat das keiner. Nicht mehr und noch nicht. 

Obwohl meine Familie mich ausschloss, bekam ich mit, was hinter verschlossenen Türen abging. Nicht nur, weil Dale mich auf dem Laufenden hielt, sondern auch, weil ich nicht so dumm war, wie meine Eltern glaubten. Vielleicht hatte ich kein Jägerblut, doch - obwohl meinen Eltern das Gegenteil lieber wäre - war ich dennoch existent. Ich hatte keine Ahnung, wie wichtig ich war. Keiner hatte das. Ich war ein normaler Typ, mit einem normalen Leben. Mehr wollte ich gar nicht. Doch heute, an einem sonst normalen Tag, änderte sich alles.

Ich war heute Abend, wie jeden zweiten Tag, nach dem Arbeiten nochmal rausgegangen, um joggen zu gehen. Ich war es gewohnt, regelmäßig Sport zu machen, da ich beim Training zuhause immer besonders hart rangenommen worden war, um mit den Jägerblütigen mithalten zu können. Es machte mir Spaß, ich brauchte das manchmal auch einfach, um den Kopf frei zu bekommen. Außerdem sah ich täglich bei meinem Job wie wichtig ein gesunder, starker Körper für die Psyche war. Ich konnte mich nicht abends nach dem Arbeiten auf mein Sofa legen und nichts tun, wenn ich jeden Tag Leuten begegnete, die sich nicht frei bewegen konnten, so gerne sie auch wollten. Das ließ mein Gewissen einfach nicht zu. Ich kümmerte mich gerne um andere, denn etwas Anderes konnte ich gar nicht, doch ich ließ das alles oft viel zu nah an mich heran. Ich war ein emotionaler Mensch, empathisch. Ich wusste, dass das oft nicht gut für mich war, aber ich wusste auch, dass das die Qualitäten waren, die die wichtigsten Menschen in meinem Leben an mir schätzten.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, ich beschleunigte meine Schritte, um schneller nachhause zu Anni zu kommen. Sie wohnte schon bei mir, seit wir erst zwei Monate zusammen gewesen waren, da sie genauso Schwierigkeiten mit ihren Eltern hatte wie ich mit meinen. Ich für meinen Teil war mit 18 ausgezogen, hatte mir eine kleine, günstige, aber ausreichende Wohnung genommen und von da an unabhängig gelebt. Zuerst hatte ich mich sehr einsam gefühlt, doch ich hatte begriffen, dass mein Wohlbefinden nur von mir abging und dazu zählte auch, mir nicht von irgendwem einreden zu lassen, dass ich wertlos war. Ich hatte mein Leben gut auf die Reihe bekommen. Ich war stolz auf mich, selbst, wenn viele andere mich nur als Enttäuschung ansahen.

Genau deshalb mochte ich das Joggen so sehr. Ich konnte nachdenken und immer wieder zu dem Schluss kommen, dass ich alles in meinem Leben richtig gemacht hatte. Jedoch hatte ich keine Ahnung, dass eine höhere Macht anderer Meinung war.

Ich war dabei, die Straße zu überqueren, um zu dem Hochhaus zu kommen, in dem sich meine gemeinsame Wohnung mit Anni befand, als mich jemand am Arm packte zu sich drehte. Ehe ich begriff, was passierte, spürte ich bereits einen starken Schmerz im Bauch. Ich keuchte auf, erkannte den jungen Mann, der mit einem gehässigen Grinsen vor mir stand, mich an der Schulter gepackt hatte und mit seiner freien Hand immer wieder mit einem Messer in meinen Bauch stach, genau, obwohl es bereits dunkel geworden war. 

Ich konnte nicht sagen, wie oft er die Klinge in mich stieß und wieder herauszerrte. Das alles passierte unglaublich schnell, dennoch schien die Zeit irgendwie still zu stehen in diesem Moment. 

Ich hatte unglaubliche Schmerzen, ich war geschockt, aber eines überwog: Die Gewissheit, dass ich das keineswegs überleben können würde.

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