Schock.
Wir verwenden diesen Begriff so leichtfertig; „Haha, das hat mich jetzt geschockt!", „Das war der Schock meines Lebens!", „Wow, wie schockierend!", doch wenn man einen wirklichen Schock, im ursprünglichen medizinischen Sinne erlebt hat, weiß man, was das eigentlich bedeutet.
Austin, Jay und ich - wir waren geschockt. Dale hatte Chad vor unseren Augen abgestochen. Natürlich nicht aus eigener Intention, doch er hatte es getan, Chad war tot und seine Blutlache kreischte uns das ins Gesicht, seit Chads Leiche abtransportiert wurde.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange das her war. Es könnten Minuten gewesen sein, aber auch Stunden oder Tage. Es war, als habe mein Körper einfach abgeschalten in dem Moment, als dieser Dolch Chads Brust durchbohrte. Meine Versuche, Charlie zu erreichen hatten sich von alleine eingestellt, meine Pläne, hier rauszukommen hatten sich in Luft aufgelöst und meine Hoffnung war verloren. So lächerlich es auch gewesen war, ich hatte daran geglaubt, dass alles gut werden würde. Dass wir es schaffen würden, als Team. Wir hatten zusammen schon so viel erlebt und zustande gebracht und nun das... Ich weigerte mich zu glauben, dass es so enden sollte. Austin zu Tode gequält und gefoltert von einem Sadisten, Jay gefangen in seinem eigenen Körper, wenn ein Engel Besitz von ihm ergriff und ich in Gefangenschaft dieser Fanatiker. Ohne meine Kraft hätte ich ihnen nichts zu bieten, mir war bewusst, dass ich ohne sie vermutlich schon lange tot wäre, doch selbst wenn dieser Connor seine Spielchen auch mit mir spielen würde, ich hatte nicht vor, auch nur die kleinste Kleinigkeit zu tun, um diesen Menschen ihren Willen zu geben. Nicht nach dem, was sie uns angetan hatten.
Nachdem ein paar der Männer Dale Chads Leiche entrissen hatten, hatte er sich erhoben und wortlos den Raum verlassen ohne vom Boden aufzusehen. Obwohl der Tod seit meinem sechzehnten Lebensjahr mein täglicher Begleiter war, konnte ich mir nicht vorstellen, was gerade in Dale vor sich ging. Ich war ihm nicht böse, weil er nicht mehr zu uns runtergekommen war, um uns zu helfen. Im Grunde, war er hier genauso gefangen wie wir auch, nur, dass ihm diese Ketten schon bei seiner Geburt angelegt worden waren. Gerade war ohnehin keiner von uns in der Verfassung, genug Kraft aufzubringen, um einen Fluchtversucht zu starten.
Eine unbestimmte Zeit verging, bis die Tür zu dem schäbigen Keller, in dem wir gefangen gehalten wurden, wieder aufging und Conner lässig die Treppe herunter schlenderte. Zwei Wachen stellten sich oben neben die Tür und schauten kalt drein.
„Hallöchen!", begrüßte uns Connor fröhlich. Er stellte sich vor uns, stemmte die Hände in die Hüften und musterte uns. „Na nu, was ist denn mit euch passiert? Schlechte Laune?"
Das Ganze war so absurd, dass ich weder antworten konnte noch wollte. Austin war noch benommen von seinen Versuchen, sich zu heilen, also blieb auch eine Antwort von ihm aus. Einzig Jay zeigte eine Reaktion, indem er herablassend schnaubte.
„Hast du was zu sagen, Kleiner?", hakte Connor neugierig nach.
Mein Blick zu Jay verriet mir, dass er ihn mit zusammengekniffenen Augen ansah, während er den Kopf schüttelte. „Ich frage mich einfach nur, was zum Fick mit euch los ist. Wie wird man so krank wie ihr, mh? Ihr habt gerade jemanden dazu gebracht, seinen Bruder umzubringen, einen Mann, den ihr genauso kanntet..."
„Chad war ein Vampir..."
„Und wer hat euch das Recht gegeben zu entscheiden, dass er deshalb nicht leben darf?!"
Ich zuckte zusammen bei der Lautstärke von Jays Stimme. Das alles nahm ihn unglaublich mit, kein Wunder, er war 17 Jahre alt... Andere in seinem Alter kümmerten sich darum, sich die Haare am Sack zu entfernen ohne sich zu schneiden oder irgendwelchen Mädchen schöne Augen zu machen, doch er saß hier, trug die Verantwortung, die Engelshülle zu sein, hatte mitangesehen, wie jemand ermordet worden war, erlebte mit, wie der Mann, der für ihn bestimmt war, gefoltert wurde und um sein Leben kämpfte und sah aus alle dem keinen Ausweg. Im Gegensatz zu Jay hatte ich schon viel mitgemacht, ich hatte mehr Erfahrung und wusste etwas besser mit Verlust und Angst umzugehen. Jay stand dem noch als wehrloser Junge gegenüber. Doch es war wichtig für mich, dass er wusste, dass er nicht alleine war. Daher schaltete ich mich ein, bevor Connor dazu kam zu antworten. „Jay"
Er sah mich an, trug Wut in seinem Blick, die durch eine ungeheure Angst und Verzweiflung immer weiter angefacht wurde.
„Gib nicht auf."
Ich konnte ihm nicht guten Gewissens versprechen, dass alles gut werden würde, denn ich hatte keinen Einfluss darauf. Ich hatte Chad nicht beschützen können, genauso wenig konnte ich Jay, Austin oder mich selbst beschützen. Aber sich nicht wehren zu können, hieß nicht gleich, dass wir auch keinen Widerstand leisten konnten oder sollten. Ein Kampf konnte nur solange stattfinden, wie es Kämpfende gab und ich weigerte mich zu resignieren. Denn ich hatte etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte.
Jay verstand, was ich ihm sagen wollte. Er nickte und ich sah in seinem Blick, wie er etwas Kontrolle zurückerlangte. Ich löste meinen zuversichtlichen Blick erst aus seinem, als ich die dumpfen Schläge und Geräusche von außerhalb des Raumes hörte.
In dem Moment, als ich zur Tür sah, wurde diese aufgerissen und Charlie widmete sich den Wachposten neben sich, die sofort auf ihn losgingen. Auch Connor stürzte sich auf meinen Mann, doch er wurde seine Angreifer schnell los, indem er sie bewusstlos schlug. Er eilte die Treppe herunter, ohne einen Blick zur Seite auf mich zu.
Ich hörte mich seinen Namen hauchen, vernahm den Unglauben in meiner eigenen Stimme. „Alles ist gut, Boris", versicherte er mir, als er sich vor mich kniete. „Ich bin da. Jetzt wird alles gut"
Ich wusste nicht, was genau es war, vermutlich einfach alles, doch in dem Moment, als Charlie mit den Krallen meine Fesseln löste, fiel ich ihm schluchzend um den Hals. Er nahm sich einen kurzen Moment, um mich fest an sich zu pressen, zog dabei meinen Duft tief in seine Lungen, ehe er mich sanft von sich schob und mir Waffen überreichte, die er bei sich trug.
Sein Blick sagte in diesem Moment so viel aus: Seine Freude, mich zu sehen; seine Sorge, was mir passiert war; seinen Zuspruch, dass ich jetzt stark sein musste. Ich nickte bloß ohne überflüssige Worte und zusammen machten wir uns an Austins und Jays Befreiung.
Dass mein bester Freund noch am Leben war, grenzte trotz seiner Kraft an ein Wunder. Er hatte noch einige Verletzungen, die sich weigerten zu heilen, doch er konnte laufen, wenn auch nur schwach. Jay stützte ihn und zusammen liefen die beiden hinter Charlie und mir her. Wir verließen den Kellerraum über die Treppe nach oben. Im Flur konnten wir zwei Wege gehen. Der eine war frei, doch auf dem anderen kämpften Silas und Raphael Seite an Seite, um niemanden zu dieser Tür durchdringen zu lassen.
„Komm, weiter" Charlie deutete in die Richtung, die noch frei war, doch ich weigerte mich zu gehen.
„Wir können sie doch nicht hier lassen!"
„Sie kommen klar, Boris. Außerdem ist Michael hier auch noch irgendwo. Wir müssen euch erst in Sicherheit bringen."
Austin, Jay und ich waren zu schwach, wir waren in einem Kampf momentan einfach nur eine Belastung, ich riss meinen Blick also von meinem Cousin los und half Jay, Austin weiter zu stützen. Wenn uns jemand entgegenkam, räumte Charlie die Person aus dem Weg. Wir erreichten den Ausgang der Holzhütte, doch in dem Moment, als wir sie verließen, wurde Charlie zurückgerissen. Er schrie uns zu, dass wir dem Verlauf des Flusses folgen sollten, bis wir Omas Auto sahen und widmete sich seinem Kampf. Er konnte aber nicht alle der Angreifer abhalten, sodass einige zu uns durchdrangen. Ich ließ also von Austin ab, brüllte Jay zu, dass er mit ihm fliehen sollte und versuchte, ihnen Zeit zu verschaffen. Ich war im direkten Kampf ohnehin nicht der beste, zudem war ich körperlich geschwächt und es kam mir so vor, als würde ich jeden Moment umfallen. Alles verschwamm zu einer Einheit aus Kampf, Schmerz und Blut. Und dann fiel der erste Schuss.
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Only We
Fantasy-Ich erkannte in seinem Blick, dass da noch so viel mehr war. So viel mehr, das er mir sagen und bewusst machen wollte, doch er stand einfach nur knapp vor mir und sah mich intensiv an, sodass es sich so anfühlte, als entfachte er ein wärmendes Lage...