31. Chad: Theodizee

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Ich konnte diese Nacht noch schlechter schlafen als sonst und schlich daher durch das Haus, um ins Bad zu gelangen und mir ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Als ich dabei an Luzifers Zimmer vorbeikam, hörte ich Stimmen von drinnen und stoppte. Die Tür war bloß angelehnt und es dämmerte auch ein leichtes Licht vor sich hin. Luzifer und Michael flüsterten, doch ich verstand sie trotzdem ganz gut.

„Was ist los mit dir, Michael? Du versuchst jedem zu helfen, aber ich sehe dir doch an, dass was nicht stimmt. Allein, dass du den Jungs den Zauber nicht selbst eingebrannt hast. Du hast mich das nicht machen lassen, um es mir beizubringen. Du konntest es nicht selbst..."

„Die Hölle hat mich verändert, Lu", hörte ich leise von Michael.

Luzifer schnaubte belustigt. „Es ist die Hölle, was hast du denn erwartet? Einen schönen Strandurlaub?"

„Wie hast du es dort ausgehalten all die Jahre ohne dich selbst zu verlieren?" Michael klang leidend dabei und irgendwie rührte es mich, dass die beiden Brüder ein Gespräch dieser Art führten. Es wirkte so vertraut. Das hatte ich nicht erwartet.

„Ich war die meiste Zeit meines Lebens in der Hölle. Der Himmel war für mich nie das Paradies. In der Hölle war ich zwar alleine, doch keiner konnte mich verletzen. Keiner außer mir selbst. Das ist es, was die Hölle tut, Michael. Du wirst dort nicht bestraft und gefoltert. Du wirst mit deinen eigenen Abgründen konfrontiert, dem schlimmsten Teil deiner selbst. Aber nach einer Zeit... Nach einer Zeit kann es einfach nicht mehr schlimmer werden. Man gewöhnt sich an die Qualen, an das Leid, den Schmerz." Ich hörte erneut einen belustigten Ton von Luzifer. „Man stellt fest, wie sinnlos der Gedanke an Rache ist. Es bringt nichts, andere für meine Fehler zu bestrafen. Zwar habt ihr mich gequält, aber ich war derjenige, der Schande über die Menschheit gebracht hat. Ich hatte eine Strafe verdient, das weiß ich."

„Glaubst du... Glaubst du an Erlösung?", hörte ich unsicher von Michael.

„Ich glaube an Liebe. Sie hat mich befreit. Vielleicht kann sie dir auch helfen"

Michael klang enttäuscht bei seiner Antwort. „Die Liebe war dein Fluch und somit deine Rettung. Ich habe keinen Fluch, keine Hoffnung... Ich bin verloren"

„Das glaube ich nicht", wiedersprach Luzifer sofort. „Ich war Billiarden von Jahren in der Hölle. Deine Zeit dort war ein Wimpernschlag dagegen. Versteh mich nicht falsch, ich will es nicht klein reden, aber wenn ich von der Hölle losgekommen bin, wieso solltest du es dann nicht auch können?"

„Bei mir ist es anders... Ich..."

Michael stoppte, als die Tür knarzte, da ich mich zu sehr dagegen gelehnt hatte. Ich versteckte mich sofort neben der Tür an der Wand. Jemand stand auf, um die Tür zu schließen, doch entdeckte mich nicht.

Erleichtert atmete ich durch und tat, wofür ich eigentlich aufgestanden war. Jedoch ging mir das Gespräch von Michael und Luzifer einfach nicht mehr aus dem Kopf. Als ich wieder durch den Gang schlich, um zurück in mein Zimmer zu kommen, lauschte ich erneut, doch nun war ihr Gespräch weniger interessant.

„Wo warst du nachts bisher eigentlich?"

„Hier und da... Die Erde ist ein schöner Ort"

„Wenn du meinst", brummte Luzifer. „Du kannst meinetwegen bei mir schlafen, aber versuch gar nicht erst, kuscheln zu wollen"

Michael lachte leicht. „Schlaf gut, kleiner Bruder", meinte er so leise, dass ich ihn beinahe nicht verstand.

Mir war klar, dass jetzt nichts mehr Spannendes passieren würde, daher ging ich weiter in mein Zimmer und legte mich wieder auf das Bett. Ich sollte dringend mit Raphael besprechen, ob ich den Raum etwas umgestalten durfte, denn dieses ganze Pink hier machte mich echt noch irre. Luzifers Zimmer war schön. Schlicht eingerichtet, aber durch die Lichterketten doch irgendwie liebevoll und romantisch. Ich war mir sicher, er hätte nichts dagegen, wenn ich mich zu ihm legte, doch zum einen schlief Michael jetzt dort und zum anderen wollte ich Luzifer nicht unnötig quälen. Er war ein guter Mann, ehrlich, sensibel. Es war nicht komplett abwegig, dass ich mich in ihn verliebt hatte, doch die Voraussetzungen waren damals komplett andere gewesen. Ich war nicht dieser Chad. Und eigentlich hatte ich ja auch schon genug Probleme, ohne dass ich eine Beziehung mit Luzifer hatte. Dem Lichtbringer.

Ich fand es schön, was Michael über Luzifers Entstehung gesagt hatte. Dass er besonders war, weil er mit Liebe erschaffen worden war. Dass er dadurch ein verborgenes Licht in sich trug und dieses nur entdecken musste.

Dass Gott der Böse in dieser Geschichte zu sein schien, überraschte mich nicht mal. Jeder hatte sich schon mal, ob bewusst oder unterbewusst mit der Theodizeefrage auseinandergesetzt. Man versuchte zu erklären, wie es trotz des Glaubens, dass Gott gut und allmächtig war, Leid auf der Erde geben konnte. Ich wusste nicht, was man sich dadurch erhoffte. Ich für meinen Teil versuchte einfach zu verstehen. Zu verstehen, wie die Welt funktionierte. Wie die Menschen handelten. Wieso sie so handelten wie sie es taten. Eine Antwort hatte ich dafür noch nicht gefunden, doch Michael schien eine reine Enzyklopädie an Antworten zu sein. Ich hatte so viele Fragen, die ich ihm stellen wollte, doch vor allem interessierte es mich, was ich tun konnte, um zu helfen. Denn alles über die Welt zu wissen, brachte mir nichts mehr, wenn sie aufhörte zu existieren.

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