17. Dale: Wahrheit und Lüge

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Es war doch irgendwie paradox, dass ich einer der wenigen Jäger war, die einen Vampir direkt töten konnten, doch bis heute noch keinen aus der Nähe zu Gesicht bekommen hatte. Statt sie der Reihe nach abzuschlachten, was in Anbetracht dessen, dass sie weit in der Überzahl gewesen waren, ohnehin nicht funktioniert hätte, hatte ich mich relativ nett mit ihnen unterhalten und sogar versprochen, alles, was ich erfahren hatte, für mich zu behalten.

Es fühlte sich nicht gut an, dass mein Bild von Vampiren augenscheinlich immer gestimmt hatte, denn das bedeutete, dass dies früher oder später zu einer Rebellion meinerseits gegen meine Familie führen musste...

Chad hatte mich immer darauf hingewiesen, dass meine Eltern mir das sagten, was für sie das beste war, wenn ich es für die Wahrheit hielt. Dinge, von denen sie überzeugt waren, dass sie richtig waren. Ihre Wahrheit, doch nicht meine.

Mein Bruder hatte immer zu mir gesagt: Glaube nichts, was du nicht mit einen Augen gesehen hast und selbst da musst du noch einiges hinterfragen. Lass dir nichts einreden. Es hat einen Grund, warum du ein reines Herz hast und sie nicht. Lass dir das nicht nehmen. Du bist der einzige, dem du wirklich vertrauen kannst.

Er hatte mich sogar angehalten, selbst ihm nichts zu glauben, wenn es mir nicht absolut logisch erschien. Er hatte mir beigebracht, auf mein Herz zu hören und das hatte mich zu dem Mann gemacht, der ich heute war.

Chad hatte sich durch seinen Tod kaum verändert, der einzige Unterschied war es, dass er jetzt derjenige war, der meine Hilfe brauchte und nicht andersherum.

Es fiel mir nicht schwer zu akzeptieren, dass er ein Vampir war, im Gegenteil. Ich war der Meinung, das bewies, dass er schon immer besonders gewesen war, egal, was alle anderen behauptet hatten. Er fühlte sich gerade verloren, das wusste ich. Doch ich war mir sicher, ihm öffneten sich durch diese Verwandlung ganz neue Türen. So war er zum Beispiel seine untreue Freundin losgeworden, die ich schon immer gehasst hatte, und war nun an bessere Leute geraten, ehrlichere.

Lügen bereiteten mir körperliche Schmerzen und es hatte mich gequält, in Annis Nähe zu sein. Doch Chad war glücklich mit ihr gewesen und sie war alles gewesen, was er außerhalb unserer Familie, die ihn ohnehin verstoßen hatten, gehabt hatte. Ich hatte ihm das einfach nicht nehmen können, also hatte ich ihm niemals verraten, was ich wirklich von Anni hielt.

Seine neuen Freunde aber waren, soweit ich das bisher beurteilen konnte, aufrichtig. Ich konnte mir sicher sein, dass Chad bei ihnen in guten Händen war.

Manchmal reichte es schon, mit einer unehrlichen Person in Raum zu sein und mein Magen krampfte schmerzhaft, doch das war zumindest in ihrer Gegenwart nicht passiert.

Wenn ich mich mit Leuten unterhielt, die nichts von meiner Kraft wussten, hatte ich immer ein wenig Angst, wenn ich sie mir sympathisch waren, da ich wusste, sobald ich dieses Stechen spüre, das bewies, dass sie mich anlogen, wäre ich einfach nur noch enttäuscht von ihnen und das wäre es mit unserer Beziehung. Bei Austin jedoch hatte ich diese Angst seltsamerweise nicht.

Wir unterhielten uns lange, als wir Jaylin nachhause brachten, es machte Spaß und ich vergaß total, dass wir eigentlich eingeschworene Feinde sein sollten, laut allem, was ich mein Leben lang gehört hatte.

Es kam mir so vor, als kannte ich diesen Mann schon seit Ewigkeiten und das, obwohl es gerade mal ein Tag war. Doch er hatte mir schon seine halbe Lebensgeschichte erzählt, zumindest aus der Zeit, an die er sich erinnerte. Gerade berichtete er mir von seiner ehemaligen Affäre mit Boris und wie er so herausgefunden hatte, dass Vampirblut giftig für Jäger war.

„Glaubst du, Jägerblut ist auch giftig für Vampire?", hakte ich überlegend nach.

Austin zuckte mit den Schultern. Langsam wirkte er ziemlich erschöpft davon, Jaylin so lange zu tragen. „Das kann ich dir nicht sagen. Ich kann mich ja selbst heilen, das heißt, selbst, wenn Jägerblut giftig für Vampire wäre, würde mich das wohl kaum betreffen. Charlie und Raphael tut das Jägerblut nichts, weil sie nur das von ihrem Gefährten trinken... Mehr weiß ich darüber auch nicht"

Ich nickte verstehend und hielt ihn schließlich am Oberarm, um ihn mit einer Geste darum zu bitten, mir Jaylin zu übergeben. Kurz wirkte er verwirrt, doch er gab ihn mir und ich trug ihn weiter.

Währenddessen begann er in lustigen Bewegungen seinen Arm auszuschütteln, sodass ich lachen musste. „Du hättest einfach etwas sagen können, als er schwer geworden ist"

„Um mir von so einem kleinen Jägerlein helfen zu lassen?", grinste Austin neckend.

Ich kniff die Augen zusammen und streckte ihm die Zunge raus. Ich war 19, das hieß ich hatte noch ein wenig Hoffnung, dass ich in den nächsten zwei Jahren etwas wachsen würde.

Austin lachte bloß über mein kindisches Benehmen, sah auf sein Handy und dann auf ein Haus uns gegenüber. „Hier ist es"

Wir wurden beide etwas ernster, da wir uns dessen bewusst waren, dass wir hier einen bewusstlosen Minderjährigen bei sich zuhause abgaben, nachdem er einen Tag verschwunden war und seine Freunde gesehen hatten, wie Fremde ihn gekidnappt hatten...

Austin drückte auf die Klingel und wir warteten angespannt, bis die Tür geöffnet wurde. Eine Frau stand uns gegenüber, musterte uns, doch sah Austin besonders lange an. „Elijah", hauchte sie dabei und schluckte.

Er räusperte sich. „Entschuldigung, aber ich kenne keinen Elijah. Mein Name ist Austin. Ich bin ein Freund von Jaylin, wir waren feiern und er hat es ein bisschen übertrieben" Ich deutete zur Ergänzung auf den Jungen, der über meiner Schulter hing und der Blick der Frau huschte dorthin.

Sie wirkte sehr verwirrt, doch öffnete uns die Tür, bat uns, ihr zu folgen und deutete schließlich im Wohnzimmer auf ein Sofa, wo ich Jaylin ablegen sollte.

„Was... Was ist passiert?", fragte sie, sah dabei nur Austin an. Er sah mich an und ich verdrehte innerlich die Augen über seine Unfähigkeit zu lügen. „Wir haben uns beim Feiern aus den Augen verloren, als wir ihn wiedergesehen haben, war er so... Einige meinten, er hätte sehr viel getrunken..."

Die Frau atmete tief durch und sah ihren Sohn kopfschüttelnd an, ehe sie zurück zu uns blickte. „Dann danke, dass ihr ihn nachhause gebracht habt."

Es war wohl unser Hinweis zu gehen. Als wir an der Tür standen und die Frau sie gerade schließen wollte, hielt Austin ihr noch einen Zettel hin. „Geben Sie ihm bitte meine neue Nummer. Er soll mich anrufen, sobald er wach ist"

Sie nickte, nahm den Zettel an sich und schloss die Tür.

„Das war irgendwie komisch", stellte Austin schließlich fest, als wir wieder vom Hof liefen. Ich nickte zustimmend und sah ihn fragend an. „Denkst du, diese Frau kennt dich aus deinem Leben als Mensch?"

Seine Augen schossen weit auf, so als habe er daran gar nicht gedacht. Er war wohl nicht grade der Hellste...

„Ich sollte die Tage nochmal hingehen und nachfragen... Willst du mitkommen?" Es klang ein wenig nach einer Bitte und sein Blick machte es mir nicht gerade einfach, nein zu sagen.

„Kann ich machen. Gib mir dein Handy"

Sofort streckte er es mir hin.

Augenverdrehend gab ich es ihm zurück. „Entsperrt, Austin, sonst kann ich nichts damit anfangen."

„Oh" Er lächelte unsicher, entsperrte das Handy und hielt es mir erneut hin.

Ich speicherte meine Nummer bei ihm ein und meinte, er solle mich anrufen, wenn er etwas brauchte beziehungsweise wieder herkommen wollte, um sich über seine Vergangenheit zu informieren.

Als sich unsere Wege trennten, verabschiedeten wir uns mit einem festen Handschlag voneinander. Ich ging nachhause, während Austin zu Boris' Oma wollte, da es schon ziemlich spät war und er keine Lust mehr hatte, so viel zu laufen.

Auf meinem Weg nachhause überlegte ich mir, wie ich mein Verschwinden und den nicht ausgeführten Auftrag erklären sollte. Es war klar, dass ich dafür bestraft werden würde, doch ich machte mir mehr sorgen darum, nichts zu erzählen, das Chad und seine Verbündeten verraten konnte. In diesem Moment begriff ich, dass dies der Beginn meines Doppellebens war und ich mich früher oder später für eine Seite entscheiden müsste.

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