Während Raphael und Silas beim Training hauptsächlich versuchten, ihre Kraft zu kontrollieren und gezielter anzuwenden, da sie durch ihre Verbindung wohl schon alles erreicht hatten, was ging, versuchten wir anderen unser volles Potenzial rauszukitzeln.
Ich hatte mit Charlie ausführlich darüber diskutiert, ob wir versuchen wollten, meine Kraft etwas mehr auf ihn zu übertragen, damit es für mich erträglicher wurde. Er meinte, er wollte mir helfen und argumentierte damit, dass ich meine Kraft immer hatte loswerden wollen und wir nun eine Möglichkeit hatten, es zumindest angenehmer für mich zu machen. Aber ich konnte und wollte Charlie das einfach nicht antun. Er hatte schon genug gelitten in seinem Leben, der Tod verfolgte ihn quasi. Ich wollte nicht, dass er genauso zu einem Teil von ihm wurde wie von mir.
Nachdem ich vor einiger Zeit in Jays Zukunft gesehen hatte, hatte sich ähnliches noch ein paar Mal wiederholt. Ich sah bestimmte Bilder aufblitzen, doch nur kurz, beinahe so als wollte sich die Zukunft mir einfach noch nicht zeigen. Dass ich sie dennoch sah, beziehungsweise mich danach daran erinnern konnte, hieß: Das Ereignis stand fest. Michael hatte behauptet, wir hätten jetzt die Möglichkeit, die Zukunft nach unseren Wünschen zu formen, doch, was ich da sah, sah absolut nicht so aus, als hätten wir uns diesen Scheiß ausgesucht.
Für eine Weile hatte ich es für mich behalten, doch nachdem ich in einem ruhigen Moment mit Charlie gekuschelt hatte und dann einfach so gesehen hatte, wie ein Mann mit braunen Locken ihm einen Silberdolch in die Brust gerammt hatte, musste ich mit jemandem reden, ich brauchte Rat und ich wusste, von wem ich mir diesen holen konnte.
Michael und Luzifer verbrachten viel Zeit zusammen, seit sie hier waren. Sie reden viel miteinander, manchmal lachten sie mitten in der Nacht auch einfach so los und weckten damit das ganze Haus auf. Sie bauten eine Bindung auf, das bemerkte man auch an der Art, wie sie miteinander umgingen. Luzifer misstraute Michael nicht mehr. Er unterstützte ihn und er ließ sich von ihm unterstützen. Jetzt brauchte jedoch ich ihre Hilfe.
Es war bereits spät abends und ruhig im Haus. Dale, Briana und Jay waren vor ein paar Stunden gegangen, Raphael und Silas wollten Oma besuchen und bei ihr übernachten, also waren nur noch Charlie, Chad, Austin, Luzifer, Michael und ich hier. Während Charlie bereits im Bett war und vor sich hinschlummerte, saß Chad noch mit Austin vor dem Fernseher und sie schauten sich eine komische Datingsendung an. Ich schmunzelte etwas darüber, wünschte ihnen eine gute Nacht und ging dann hoch. Jedoch steuerte ich nicht mein Zimmer an, sondern Luzifers, in dem er sein musste, wenn er nicht gerade unten war.
Ich klopfte an die Tür und ging nach einem leisen „Herein" in den Raum. Michael und Luzifer saßen auf dem Bett und wirkten so, als haben sie sich gerade unterhalten. „Habt ihr ein paar Minuten für mich?"
„Selbstverständlich", antwortete Michael. Ich sah ihn an, erinnerte mich an das Bild von ihm. Die schwarzen Adern auf seinem gesamten Körper, die pure Dunkelheit in seinen Augen. Es ließ mich misstrauisch ihm gegenüber werden. Er hatte ausgesehen wie ein... Monster.
Ich stand vor dem Bett herum, obwohl Luzifer mir anbot, mich zu setzen.
„Ich habe wieder Visionen... Naja nicht wirklich so wie zuvor, sondern kurz aufploppende Bilder. Sie verschwinden ganz schnell wieder, aber... Es ist wirklich unschön"
Luzifer sah von mir zu Michael, der seufzend auf die Bettdecke blickte. „Es war klar, dass das passieren musste. Die Zukunft passt sich langsam der Gegenwart an. Mit jeder Entscheidung, die wir jetzt treffen, beeinflussen wir das maßgeblich"
„Was können wir dagegen tun?", fragte ich verzweifelt. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass Jay verblutete, ich wollte nicht, dass Charlie von Chad oder Dale getötet wurde, ich wollte nicht, dass Michael einer der Bösen wurde.
Michael schüttelte den Kopf. „Versuchen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das ist das einzige, was mir einfällt."
„Okay", seufzte ich. „Danke für eure Zeit..." Ich trottete niedergeschlagen wieder zurück zur Tür. Kurz bevor ich sie erreicht hatte, hörte ich von Luzifer: „Wir bekommen das hin, Boris. Das haben wir beim letzten Mal auch, obwohl es unmöglich schien"
Ich nickte bloß und ging dann. Auf dem Flur begegnete ich Silas, der ebenfalls bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Er wollte natürlich wissen, was los war, doch ich konnte es ihm nicht so einfach sagen. Als er jedoch hier so vor mir stand und wir heimlich flüsterten, wobei er deutliche Sorge in den Augen trug, tat sich ein altes Bedürfnis in mir auf.
„Können wir vielleicht heute zusammen schlafen?"
Silas wirkte überrascht, doch er musste mir ansehen, dass ich das gerade echt brauchte. Silas war schon mein ganzes Leben lang mein Anker, selbst, wenn wir echt oft stritten, so war er doch die wichtigste Person in meinem Leben. Ich liebte Charlie abgöttisch, doch auch Silas liebte ich, nur eben auf einer anderen Ebene.
Charlie hatte mich in der Zukunft mehrmals verlassen und enttäuscht, mich emotionalen Qualen ausgesetzt, die unerträglich gewesen waren. Doch Silas war immer für mich da gewesen, um mir wieder aufzuhelfen, wenn ich gefallen war. Er hatte mich solange gestützt und meine Hand gehalten, bis ich die Kraft gehabt hatte, alleine weiterzugehen. Im Moment wusste ich nicht wirklich, wovor ich am meisten Angst hatte, aber ich wusste, wenn ich bei Silas war, war ich sicher. So wie damals, als er beinahe jede Nacht bei mir verbracht hatte. Ich wollte noch eine Nacht wie diese. Nur noch eine Nacht Kind sein und vergessen, was die Welt uns bisher schon angetan hatte und noch antun wollte.
Ich wollte für einen Moment vergessen können, dass ich im Inneren noch immer um meinen Cousin trauerte. Er stand direkt vor mir, er nahm mich in den Arm, er hielt mich fest und tröstete mich. Ich genoss es. Doch ich fragte mich auch, wie ein Mann wie ich, der angeblich ein reines Herz haben sollte, erleichtert sein konnte, weil ich meinen Cousin zurück hatte, wenn dafür die Welt in den Abgrund stürzen würde.
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Only We
Fantasy-Ich erkannte in seinem Blick, dass da noch so viel mehr war. So viel mehr, das er mir sagen und bewusst machen wollte, doch er stand einfach nur knapp vor mir und sah mich intensiv an, sodass es sich so anfühlte, als entfachte er ein wärmendes Lage...