16. Luzifer: Kraft

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Es wurde einfach immer schlimmer. Mit jeder Minute, die verging, hatte ich das Gefühl, ich brach ein Stückchen mehr zusammen. Ich kämpfte, ich kämpfte wirklich, aber es war einfach nicht genug.

Meine Kraft verließ mich, nachdem ich die Tür zu meinem Zimmer hinter mir geschlossen hatte. Ich sank an der Tür entlang auf den Boden, zog die Beine an und machte mich so klein es nur irgendwie ging. Ich versuchte, einfach aufzuhören zu existieren, das war das Beste für alle. Aber wie zu erwarten, funktionierte es nicht. Natürlich nicht, das wäre doch viel zu einfach. Wieso sollte denn auch einmal in meinem Leben etwas funktionieren? Wieso sollte ich es einmal leicht für mich sein? Wieso sollte es einmal so laufen, wie ich das wollte?

Die Gewissheit, dass Uriel die Welt, die Menschheit wegen seines Hasses auf mich in den Abgrund gestürzt hatte, tat unglaublich weh. Wir hatten uns noch nie gut verstanden, eher im Gegenteil, doch zu erfahren, dass mein Bruder bereit war, Vaters Schöpfung zu opfern, nur, weil er glaubte, das würde mich aus dem Weg räumen, setzte all meinen vorherigen Problemen die Krone auf. Zwar war es Uriels Ziel gewesen, dass ich ins Nichts kam, doch das, was ich gerade erlebte, war schlimmer.

Das Nichts war die pure Leere. Das Ende für jedes Wesen, das nicht menschlich war. Und im Moment das, was für mich einer Erlösung am nächsten kam. Ich fühlte mich verloren, allein. Meine Brüder hassten mich noch immer aufgrund dessen, was ich vor Billiarden von Jahren getan hatte, mein Vater war einfach verschwunden, weil Michaels Verrat ihn dermaßen enttäuscht hatte, meine Liebe kannte mich nicht und würde meine Gefühle niemals erwidern und diejenigen, die einst meine Freunde gewesen waren, hielten mich für den Teufel. Meinen Plan, die Zukunft Stück für Stück wieder zusammenzusetzen konnte ich in die Tonne kicken, nach dem, was Austin getan hatte, und somit hatte ich selbst keine Ahnung mehr, was ich tun sollte. Die anderen bauten auf mich, auf meine Führung, auf mein Wissen, dessen war ich mir bewusst, doch ich wusste einfach nicht weiter.

Mein Hirn arbeitete auf Hochtouren, doch erzielte keinen Fortschritt. In mir herrschte ein Tornado und trotzdem schien ich komplett leer zu sein. Es verwirrte mich, es machte mir Angst. Emotionen wie solche waren mir unbekannt, sie waren mir fremd, sie waren menschlich. Sie waren alles, was ich mein Leben lang verabscheut hatte und dennoch saß ich jetzt hier, nachdem ich auf mein Zimmer gerannt war wie ein unreifer Teenager und musste meine Tränen unterdrücken.

Ich zuckte heftig zusammen, als es an die Tür klopfte.

„Luzifer, ist alles okay bei dir?"

In mir zog sich alles zusammen, als ich Chesters Stimme hörte. Wieso sorgte er sich um mich? Wieso machte mich mir deshalb solche Hoffnungen? Es brachte mich um zu wissen, dass er nicht mal einen halben Meter von mir entfernt war, doch ich ihn niemals erreichen konnte. Nicht mehr. Nicht so wie früher. Nicht so wie ich ihn wollte und brauchte.

Erneut klopfte er an, da er keine Antwort bekommen hatte. „Ich gehe nicht weg, bis ich mich versichert habe, dass es dir gut geht" Er klang entschlossen und ich wusste, dass er sehr stur sein konnte, wenn er einmal eine Entscheidung gefällt hatte. Das hatte ich zu genüge am eigenen Leibe erfahren müssen.

Ich atmete also tief durch und versuchte, den Sturm in meinem Inneren abklingen zu lassen, während ich aufstand.

Ich öffnete die Tür und sah Chesters dunklen Augen entgegen. Wir waren ungefähr gleich groß, doch trotzdem fühlte ich mich gerade richtig mickrig, armselig. Vor allem, als ich das Mitleid in seinen Augen wahrnahm.

„Es geht mir nicht gut, Chester", sprach ich das Offensichtliche aus. „Und solange du in meiner Nähe bist, wird das auch nicht besser" Ich hatte im Moment so viele Schmerzpole und sah es als einzige Möglichkeit, neue Kraft zu tanken, indem ich den schlimmsten davon irgendwie beseitigte.

Er ließ sich aber nicht so einfach abwimmeln, sondern blieb genau vor mir stehen, mit zusammengezogenen Augenbrauen und verletztem Blick. „Ich will für dich da sein... Das machen Freunde so."

„Wir waren nie Freunde, verdammt!" Ich krallte meine Finger so fest in die Tür, dass sich Holzsplitter in meine Haut bohrten, doch ich ignorierte es. Das war nichts im Vergleich zu dem, was in mir vor sich ging.

Chester war aufgrund der Lautstärke meiner Stimme erschrocken zurückgewichen und sah mich nun verwirrt an. „Ich verstehe nicht..."

Ich schnaubte bitter, schüttelte den Kopf und umfasste die Tür noch fester, jedoch sagte ich nichts.

„Mann, Luzifer, wenn du mir nicht sagst, was dein Problem ist, kann ich dir nicht helfen", versuchte er es weiter. Er wollte wirklich für mich da sein. Es verletzte ihn, dass ich ihn abwies und er fühlte sich schuldig, weil er sich so nutzlos vorkam im Moment. Ich bereute es, ihn so angeschrien zu haben und ich hasste es, all diese schlechten Gefühle in ihm auszulösen, doch es war besser als ihm die Wahrheit zu sagen.

„Du kannst mir nicht helfen.", wiederholte ich, diesmal ruhiger. Ich wollte ihm nicht unnötig wehtun. Das verschlimmerte meine eigene Lage nur.

„Nicht, wenn du mir nicht die Chance dazu gibst" Chester trat wieder einen Schritt vor und sah mich eindringlich an. „Du hast mich gebeten, dir zu vertrauen, und das habe ich getan, obwohl ich absolut keinen Grund dazu hatte. Ich bin mit dir gegangen, ich habe dir jedes Wort geglaubt und mir von dir helfen lassen. Ich habe mein Leben hinter mir gelassen, weil du es von mir verlangt hast. Ich habe alles verloren, Luzifer, und ich weiß nicht wieso oder womit ich das verdient habe. Ich weiß nur, dass du gerade alles bist, das meinem Leben eine Richtung gibt, ein Ziel. Alles, was ich brauche, um irgendwie weiterzumachen. Doch ich sehe, wie du leidest, obwohl du versuchst, es dir nicht anmerken zu lassen. Obwohl du versuchst, stark zu sein. Und das halte ich einfach nicht aus. Du sagst, du kennst mich. Du hast gesagt, wir waren Freunde. Also bitte ich dich jetzt darum, worum du mich gebeten hast: Lass mich dir helfen. Vertrau mir"

Chester stand vor mir, sein Blick entschlossen, doch zugleich flehend, seine Worte so wahr, doch zugleich naiv, seine Aura so rein wie damals, doch zugleich verändert. Er war nicht der Mann, den ich geliebt hatte, noch nicht. Doch jetzt im Moment war er alles, was ich brauchte.

Wie gesagt, ich kämpfte mit mir, doch irgendwann hatte jeder Kampf ein Ende. Den einen konnte man gewinnen, doch diesen, diesen verlor ich. Gnadenlos. Ich gab auf. Es war, als fiele jede noch so schwere Last von meiner Schulter, als ich einen stürmischen Schritt nach vorne ging, nach Chesters Kopf fasste und ihn in Position hielt, während ich meine Lippen auf seine presste.

Er stolperte ein paar Schritte zurück, doch fing sich sehr schnell wieder, auch, weil er sich panisch an mich klammerte, um mich umzufallen, wegen meines energischen Angriffs. Er erwiderte den Kuss nicht, doch er schob mich auch nicht sofort weg und es war dieser kleine Moment, indem ich ihn einfach nur küssen konnte, der mir plötzlich, obwohl es ein riesen großer Fehler gewesen war, unendlich viel Kraft zu geben schien.

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