5. Boris: Zukunft

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Ich konnte gar nicht sagen, was am Schlimmsten war. Dieser unsagbare Schmerz in meiner Brust. Die ganzen Schreie in meinen Ohren. Dieses Gefühl, alles brach gerade auseinander. Die Gewissheit, dass die Welt zusammenkrachen würde und wir rein gar nichts dagegen tun konnten.

Im einen Moment war noch alles perfekt gewesen, ich hatte mit Charlie herumgealbert, nachdem er mir etwas vorgelesen hatte, doch im nächsten hatte es sich so angefühlt, als würde ich explodieren. Ich hatte Bilder vor meinem inneren Auge gesehen von einem jungen Mann, der einen anderen nachts auf offener Straße erstach. Dann hatte ich Schreie gehört, so qualvolle, unendlich viele davon. Ich hatte Bilder gesehen von Menschen, die einfach zu Staub zerfallen waren, doch nun, jetzt, wo ich die Welt nur noch als Trümmerhaufen vor mir sah, spürte ich nichts mehr, hörte ich nichts mehr... war ganz still. Die Abwesenheit von jedem Ton, jedem Gefühl, jedem Reiz war ebenso der Beweis dafür, was uns bevorstehen würde: Nichts.

Es fühlte sich so an, als hätten wir uns auf einem sicheren Weg befunden, doch dieser war einfach unter uns weggebrochen und nun fielen wir in unendliche Tiefen.

Ich war so gefangen in dem Wissen, dass irgendetwas schlimmes passiert sein musste, dass ich es nicht schaffte, mich auszudrucken. Weder durch Worte, noch durch Gesten oder sonstiges.

Charlies und meine Verbindung war so weit, dass er einen Teil meiner Visionen sehen bzw. miterleben könnte. Er kniete vor mir und ich erkannte Panik in seinem Blick. Das hatte ich bei ihm noch nie gesehen, doch es bewies, dass es schlimm aussah. Wirklich schlimm.

Charlie versuchte, mich anzusprechen. Ich bekam das mit, doch ich konnte einfach nicht reagieren. Es war, als sei ich nur noch körperlich anwesend und würde alleine mit meinem Unterbewusstsein wahrnehmen, was um mich herum geschah. Mein Geist schien weit weg zu sein. Auf der Suche. Auf der verzweifelten Suche nach irgendetwas, das helfen konnte, selbst, wenn ich noch nicht mal wusste, wobei.

Immer wieder sah ich bestimmte Szenen vor mir, die aber langsam verblassten, so als würden sie aus der Realität verschwinden. Ich sah Austin im Wasser mit einem jungen Mann - dunkle Haare, stechend blaue Augen - er küsste ihn, sagte ihm, dass er ihn liebte und hielt ihn unter Wasser fest, solange, bis er ertrunken war. Die Szene verblasste jedoch immer mehr, bis sie schließlich verschwand. Es war, als würde ich mir einen Film ansehen, einen Film, dessen Szenen man gedreht hatte, doch nun nachträglich löschte. Ich sah mir alles an. Die Bekanntschaft zu dem Jungen unter Wasser, die Freundschaft zu ihm. Raphael, der mir den Wunsch der Unsterblichkeit erfüllte. Charlie, der mich dafür bestrafte, so egoistisch gewesen zu sein, ihm seinen Tod zu verwehren. Einen anderen jungen Mann - braune Locken, tief braune Augen - der sich um Austin kümmerte. Raphael, Silas und Austin, die gefangen genommen wurden. Gespräche mit Engeln, Gespräche mit dem Teufel. Den Krieg. Silas' Tod. Den Frieden. Und wie all das plötzlich verpufft. Zwischen drin sah ich immer wieder die Situation, in der der Mann mit den braunen Locken abgestochen wurde, beinahe so, als wolle sie mir ihre Wichtigkeit deutlich machen. Als wolle sie mir zeigen, dass sie die Ursache war für alles, was hier vor sich ging.

Ich war so überfordert, doch fühlte mich zugleich komplett leer. Es war das Schlimmste, was ich jemals empfunden hatte und ich wusste, das lag daran, weil uns das Schlimmste bevorstand, was wir jemals erlebt hatten. Ich sah die Zukunft, meistens den Tod, doch noch nie war ich mir einer Sache so bewusst gewesen wie in diesem Moment. Es war meine erste Vision dieser Art. Einfach so am helllichten Tage, ohne jeglichen Zusammenhang. Ich hasste meine Kraft eigentlich schon immer, nun war ich zum ersten Mal dankbar dafür, denn ich erkannte, dass es eine Warnung war und ich nahm mir vor, alles dafür zu tun, dass diese ihren Zweck erfüllte.

Just, als ich dies beschloss, war es, als schoss mein Geist zurück in meinen Körper, als sei er an einem Gummiband befestigt gewesen. Ich atmete hektisch und griff blind nach Charlies Oberarm, um mich an ihm festzuhalten. Mein Blick schoss zu seinem. Für einen Moment starrten wir uns einfach an und verständigten uns wortlos, obwohl wir die Gedanken des anderen nicht hören konnten. Doch das mussten wir gar nicht. Wir kannten uns gut genug, um stumm einvernehmlich zu beschließen, dass es unsere Aufgabe war zu verstehen, was ich da gesehen hatte und vor allem: Was es zu bedeuten hatte. Denn nur so konnten wir den Untergang verhindern.

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