69. Boris: Angst

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Angst.

Meiner Meinung nach das einzige Gefühl, das jeden immer begleitete, egal in welcher Ausprägung oder aus welchem Grund.

Früher hatte ich Angst, meiner Familie würde etwas zustoßen, ich hatte Angst vor meinem Vater, ich hatte Angst zu versagen, ich hatte Angst, nicht geliebt zu werden... Seit ich in die Zukunft sehen konnte, hatte sich das dezent ausgeweitet. Ich hatte meine Freunde, meine Familie, Menschen, die ich liebte, sterben sehen und ich hatte solch eine Angst davor, das würde eintreten, ich war entführt, gefoltert und verprügelt worden, hatte dem Tod schon so oft gegenübergestanden, doch noch nie, wirklich noch nie in meinem gesamten Leben hatte ich so viel Angst wie jetzt.

Angst kann vieles sein. Besorgnis vor bedrohlichen Situationen, ein beklemmendes Gefühl, sich in Gefahr zu befinden, doch für mich ist Angst vor allem eines: Hilflosigkeit.

Es war absurd, nein es war beinahe schon lächerlich. Ich war angeblich so mächtig, so stark und trotzdem saß ich hier und konnte nichts tun, während mein Mann um sein Leben kämpfte. Ich hatte keine Angst, weil er dem Tod extrem knapp von der Schippe gesprungen war, sondern, weil ich wusste, dass es nichts gab, das ich daran ändern konnte.
Nicht nach dem es schon passiert war...

Noch nie zuvor hatte ich mich so schwach gefühlt. Ich wollte aufstehen, etwas tun, Charlie helfen, aber ich konnte nur hier sitzen und seine Hand halten und das brachte mich beinahe um den Verstand. Ich fühlte mich so unglaublich nutzlos und konnte nicht aufhören mir zu wünschen, ich läge an seiner Stelle dort. Charlie half anderen wenigstens, er wusste seine Kraft einzusetzen, im Gegensatz zu mir.

Der einzige Grund, warum er überhaupt noch lebte, war, dass Chad zu unfähig gewesen war, sein Herz richtig zu erwischen, so hatte er ihm den Dolch lediglich durch die Rippen in die Lunge gestochen, und dabei einen Herzmuskel angeschnitten. Die Ärzte hatten in einigen OPs getan, was sie konnten und jetzt hieß es nur noch abwarten, ob Charlie aufwachen würde. Falls ja, war es ziemlich sicher, dass er es überlebte, doch seine Lunge würde wohl dauerhaut geschädigt bleiben, genauso wie sein Herz.

Ich konnte mir nicht erklären, wie wir zu diesem Punkt gekommen waren. Klar, ich war dabei gewesen, als Chad Charlie erstochen hatte, ich wusste, was passiert war, doch warum half ihm kein Blut mehr? Warum war er nicht so resistent gegen Verletzungen wie sonst? Warum brauchte er solange, um zu heilen? Ich verstand es nicht und das sorgte zu allem Überfluss auch noch dafür, dass ich mich dumm fühlte. Als hätte ich nicht schon genug zu kämpfen.

Raphael war meistens bei Charlie und mir, außer er brauchte Zeit für sich, er kümmerte sich um die Gesamtsituation oder ich bat ihn, mit Charlie alleine sein zu dürfen. Obwohl wir noch nicht lange hier waren, kam es mir doch wie eine halbe Ewigkeit vor.

Raphael war heute Vormittag gegangen, um zuhause ein wenig zu schlafen. Gerade war alles ruhig, Chad war in Gefangenschaft und wurde rund um die Uhr bewacht, der Höllenkrieger hielt sich wohl bedeckt und ansonsten blieben verrückte Morde, die in unseren Aufgabenbereich fielen, ebenfalls aus. Ich hatte Raphael versichert, dass er gehen konnte. Er sollte und musste endlich schlafen, denn es war wichtig, dass er einen kühlen Kopf bewahrte.

Nach ein paar Stunden klopfte es an der Tür. Ich ging davon aus, es wäre Raphael und machte mich schon bereit, ihm klarzumachen, dass er gefälligst ausschlafen sollte. Daher war ich umso überraschter, als meine Oma mit prall gefüllten Tupperdosen vor mir stand.

„Oma" Ich war überrascht, sie zu sehen, aber ich freute mich auch sehr. Ich stand auf, um sie mit einer festen Umarmung zu begrüßen, die sie nicht wirklich erwidern konnte, da ihre Hände so voll waren. Ich nahm ihr die noch warmen Dosen ab und stellte sie auf den Tisch, ehe ich sie fragte, was sie hier machte.

„Ach mein Schatz, ich weiß doch, wie sehr du Krankenhausessen hasst, ich will nur nicht, dass du mir hier verhungerst"

Ich lächelte sie dankbar an. Obwohl ich die letzten Tage kaum etwas gegessen hatte, hatte ich jedoch nicht wirklich Hunger. Vielleicht lag es auch daran, dass mein Selbsterhaltungstrieb unter der Angst um Charlie ziemlich abgeflacht war. Ohne ihn wollte ich nicht sein.

Meine Oma schien mich gut genug zu kennen, um das zu wissen, denn sie hatte mein Lieblingsessen zubereitet und verführte mich alleine durch den Geruch dazu, es zumindest zu probieren. Es schmeckte fantastisch! Schon nach dem ersten Bissen bemerkte ich, wie groß mein Hunger eigentlich war und stopfte mich geradezu mit dem guten Essen voll. Meine Oma kicherte leicht, als sie das sah und wuschelte mir einmal durch die Haare.

Sie blieb mit mir am Tisch, bis ich fertig gegessen hatte und erzählte mir von ihren drei kleinen Gastkindern. Das Jugendamt war wohl gestern da gewesen und hatte beschlossen, dass die Kinder vorrübergehend bei Oma bleiben konnten, da sie sonst in den jeweiligen Heimen getrennt werden müssten, jedoch dürfte Oma nicht das Sorgerecht für sie übernehmen, da sie schon zu alt war. Ich fand das ziemlich fies, da meine Oma noch recht fit war, aber ich verstand es auch. Sie würde nicht ewig leben.

Oma meinte, dass Raphael sich was einfallen lassen wollte, aber sie ging nicht wirklich davon aus, dass das zeitnah passierte. Sie hoffte, er würde sich ein wenig Ruhe gönnen, denn er hatte es wohl ziemlich nötig. Zuhause hatte er es nicht mal bis ins Zimmer geschafft, sondern war auf dem Sofa, mit der Blutkonserve im Mund eingeschlafen und das, obwohl er nur kurz bei Oma vorbeigucken hatte wollen, um zu sehen, ob alles in Ordnung war.

„Wir sollten Silas sagen, dass er Raphael klarmachen soll, dass er einen Gang zurückschalten soll. Raphael hat bestimmt eine Woche nicht mehr geschlafen und davor auch nicht wirklich viel... Es bringt doch nichts, wenn er sich kaputt macht"

Oma nickte auf meine Aussage hin und ging dann mit mir zu Charlies Bett, als ich mit dem Essen fertig war. Ich setzte mich auf die eine Seite, aber obwohl auf der anderen noch Raphaels Stuhl stand, blieb Oma doch vor dem Bett stehen und sah Charlie seltsam eingehend an.

„Ich weiß, er sieht echt nicht gut aus grade... aber er wird schon wieder", meinte ich und strich ihm dabei durch die Haare, war mir dabei aber nicht wirklich sicher, wem von uns ich das einzureden versuchte.

Meine Oma setzte sich nun doch neben ihn und griff nach seiner Hand, ließ sie dann aber sofort wieder sinken, so als habe sie sich dabei erschrocken.

„Was ist los, Oma?", fragte ich sie besorgt.

Sie sah weiterhin auf Charlies Gesicht, griff dabei wieder vorsichtig nach seiner Hand und hielt sie fest.

„Oma?!", meine Stimme wurde drängender.

Sie wandte den Blick zu mir, schluckte dabei hart und schüttelte den Kopf, während sie Charlies Hand wieder ablegte und dann darüberstrich.

„Es tut mir leid", murmelte sie dabei, sah zwischen Charlie und mir hin und her. „Für euch beide."

„Oma, was redest du denn da?" Ich war komplett verwirrt, aber meine Oma war todernst.

„Er wird nicht wieder als der Charlie aufwachen, den du kennst, mein Schatz", meinte sie, lächelte dabei, doch es wirkte so, als sei sie sehr verstört.

Auf meinen fragenden Blick hin, erklärte sie mir, was sie meinte und ließ mich meinen Mann dadurch einfach nur ungläubig anstarren, stundenlang, bis ich begriff, dass jetzt plötzlich alles Sinn machte.










Was ist wohl mit Charlie los?

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