57. Raphael: Untertauchen

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Die Stille, die uns umgab, war so ohrenbetäubend, dass es beinahe schmerzhaft war.

Jeder von uns hatte Wunden davongetragen, ob körperlich oder geistig, da machte ich keinen Unterschied. Den einen hatte es schlimmer erwischt als den anderen, aber jetzt gerade im Moment verschwand alles hinter dem Hintergrund, dass Chad tot war.

„Weißt du, was mit seiner Leiche passiert ist?"

Boris schüttelte den Kopf.

„Weißt du, wo Dale ist?"

Erneutes Kopf schütteln.

„Im Haus war er jedenfalls nicht", antwortete Michael. „Ich war in jedem Raum, von Dale keine Spur, genauso wenig von Chads Leiche. Sie müssen sie bereits entsorgt haben..."

Ich konnte nur ungläubig den Kopf schütteln bei der Vorstellung, die sich bei dem Wort "entsorgt" in Zusammenhang mit Chads leblosem Körper in meinem Kopf auftat. Nur leider war ich mir ziemlich sicher, dass das genau das war, was sie mit seiner Leiche getan hatten; sie entsorgt, wie ein Stück dreckigen, wertlosen Müll. Doch das war er nicht. Chad war eine gute Seele, jemand, der nur das beste verdient hatte, doch ich hatte versagt. Es war meine Aufgabe gewesen, auf Chad aufzupassen. Schlimmer als die Enttäuschung meines Vaters, die nun auf mich zukam, war jedoch der Verlust eines Freundes. Ich hatte Chad nicht nur in meinem Haus akzeptiert oder mich halt so an ihn gewöhnt, nein ich hatte ihn als Freund gewonnen, doch nun hatten wir ihn alle verloren.

Ich wusste nicht, was mit Dale los war. Wurde er noch gefangen gehalten? War er abgehauen? Ein Teil von mir hoffte, er war nicht freiwillig einfach gegangen und hatte die anderen im Stich gelassen, doch der andere wollte, dass es wenigstens ihm gut ging. Vielleicht würde er sich melden, wenn er von der Befreiungsaktion erfahren hatte, doch ich glaubte nicht daran. Zum einen hatte er nachdem sein Bruder tot war, keinen Grund mehr, auf unserer Seite zu stehen und zum anderen hatten wir so gut wie alle Möglichkeiten gekappt, erreicht zu werden. Wir waren untergetaucht, zu unserer eigenen Sicherheit.

Austin erholte sich durch das richtige Blut langsam von seinen schweren Verletzungen, Charlie und ich heilten ebenfalls. Silas waren dank seiner Lederuniform, die wir in Omas Keller vorgefunden hatten, glücklicherweise nicht allzu schwere Wunden zugefügt worden und Michael litt unter dem Kontaktabbruch zu Briana. Sie hatte sich bei der Wahl, mit uns zu kommen oder ihr Leben unauffällig weiterzuleben verständlicherweise nicht fürs Untertauchen entschieden. Da bisher noch niemand versucht hatte, sie zu rekrutieren, gingen wir davon aus, niemand wusste von ihrem Jägerblut. Sie wollte, dass das so blieb. So konnte sie bei ihrer Familie bleiben und vor allem: Bei Jay.

Gerade, als ich an ihn dachte, erkundigte sich Silas nach Neuigkeiten zu seinem Zustand.

„Er wird wieder", meinte Michael, derjenige von uns, der den Kontakt zur Außenwelt herstellte. Die Jäger kannten ihn nicht und außerdem konnte er sein Aussehen beliebig verändern. Zwar konnte er in unseren alten Leben nicht ein- und ausspazieren wie es ihm passte, doch, wenn er vorsichtig genug war, konnte er uns mit Informationen versorgen.

„Er ist noch nicht aufgewacht, aber die Ärzte sind zuversichtlich, nachdem die Operation gut gelaufen ist... Ich weiß aber nicht, wie viel ich noch herausbekommen werde. Seine Eltern haben die Polizei eingeschaltet, und diese wird die Ermittlungen aufnehmen, sobald Jay wach ist. Briana wird sich melden, wenn es dazu was Neues gibt und Jay erklären, was passiert ist..."

„Das ist doch alles Scheiße", fluchte Boris, den Kopf schüttelnd. „Es war doch gerade alles mal gut, ruhig, friedlich... und jetzt? Unser Leben ist uns entrissen worden, bevor wir es überhaupt begriffen haben und das alles nur, weil es ein paar Jäger auf uns abgesehen haben"

„Wir können hier nicht lange bleiben", setzte Silas hinzu, ohne auf Boris' Aussage einzugehen. „Die Jäger kennen unsere Familie, sie werden alles über uns herausgefunden haben, sie wissen, dass dieses Haus uns gehört und, dass wir wohl hierherkommen werden, wenn wir untertauchen wollen..."

„Wo sollen wir denn sonst hin?", fragte Boris bitter schnaubend nach. „Nenn mir irgendjemanden, der drei verwundete Vampire, zwei Jäger und einen gefallenen Engel aufnimmt!"

Die letzte Zeit war schwer gewesen für Boris, keiner nahm ihm seinen Ausraster also übel. Charlie nahm seine Hand und strich ihm etwas über den Kopf, wodurch Boris ein wenig seiner Anspannung verlor.

„Es gibt nur einen Ort, der wirklich sicher vor den Jägern ist", überlegte Michael. Dabei sah er mich an, mit einem Blick, den ich absolut nicht zu deuten wusste, solange, bis Silas „Das Vampirreich", murmelte.

Ich wusste, dass sie Recht hatten, doch ich war alles andere als überzeugt davon. „Das Volk traut euch nicht, Silas, du weißt das... Boris und du werdet auch nicht wirklich sicher dort sein"

„Solange sie unter unserem Schutz stehen, schon", widersprach Charlie. „Wir müssen Benedikt ohnehin darüber informieren, was passiert ist, allein um Chads Willen. Außerdem muss er wissen, wie stark die Jäger mittlerweile sind und dass sie nicht beabsichtigen, den Frieden beizubehalten."

Charlie sah mich dabei erwartungsvoll an. Ich wusste, dass es in meiner Verantwortung als zukünftiger König lag, mich um all diese Sachen zu kümmern, doch ich zweifelte nach wie vor daran, der Richtige für diesen Job zu sein. Allerdings glaubte ich kaum, dass es, wenn wir kurz vor einem Krieg standen, noch jemanden interessierte, ob ich der Richtige war. Hauptsache es kümmerte sich irgendjemand um diesen Mist.

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